Sonntag, 31. Mai 2020

Die ideale Gemeinschaft

Es vergeht kaum ein Jahrzehnt, in welchem die Gesellschaft ihre Werte, ihre Ziele und das Miteinander nicht kritisch gesehen werden. Aktuell ist der weltweite Umgang mit einer Krise wiederum ein Anlass, die Integrität der gesellschaftlichen Ordnungsebene in Frage zu stellen. Wohin man schaut, kann man Egomanen erkennen, die ihre eigenen Interesse verfolgen und nicht das Beste für die Allgemeinheit im Sinn haben. Das gilt nicht bloß für diese Krise, sondern auch für die Probleme, die vorher öffentlich angeprangert wurden, wie bspw. der Schutz unserer Lebenswelt.
Die Probleme sind nicht neu, erreichen aber ein bedenkliches globales Niveau und werden voraussichtlich in einem Kollaps der bisherigen politischen Strukturen enden, was sich jetzt bereits abzeichnet. Es bleibt zu bedenken: die menschliche Geschichte kann keine langfristigen, stabilen, wohlwollenden Gemeinschaften vorweisen.
So lebte der Mensch schon immer in Gemeinschaften, die auf unterschiedlichen Ebenen Schwierigkeiten mit sich bringen. Wir kennen nur vom Hörensagen oder aus Mythen ideale Gesellschaft. Die Menschheit kann scheinbar nur schwer friedlich miteinander umgehen.
Und entsprechend, da es ein urmenschliches Problem ist, kracht es auch in den kleineren sozialen Gefügen häufig im Gebälk - die Familie ist dafür wohl das klassischste Beispiel.
Die Mehrheit der Menschen wird sich, und das will ich hier gar nicht in Frage stellen, in ihren Gemeinschaften, ob gewählt oder geerbt, mehr oder weniger wohl fühlen. Wir arrangieren uns damit, dass es nicht immer optimal läuft und suchen Anschluss, je nach Interesse und Weltanschauung und mit unterschiedlichen Motiven. So dienen Gemeinschaften dem Zeitvertreib, der Zerstreuung oder z.B. beruflichen und gesellschaftlichen Vorteilen.
Wir wissen aus Erfahrung um unsere Probleme mit dem Miteinander und haben Strategien entwickelt, die Probleme mithilfe von Regeln und Institutionen zu lösen. Da ist die Justiz mit Legislative und Exekutive oder das simple Faustrecht mit dem vereinfachten Recht des Stärkeren. Heute hat jeder Kaninchenzüchterverein eine Satzung und ein Regelwerk, welche das Miteinander ordnen und Konflikte vermeiden sollen. In jeder Jugendherberge finden sich Hausregeln, welche dem blanken Vandalismus und der gelebten Rücksichtslosigkeit Einhalt gebieten sollen.
Letztlich, nach zehntausenden Jahren menschlicher Gesellschaften, muss man wohl zugeben, dass es keine politische Lösung gibt, um unser Zusammenleben zu harmonisieren und Kriege und Konflikte zu vermeiden. 
Im Kern liegen die Probleme, bricht man sie denn herunter auf menschliche Charakterzüge, immer in persönlicher Gier oder Angst begraben. Jedes Streben nach Macht (über andere) ist ein Ausdruck eines Strebens nach Sicherheit, welche aus Angst entsteht. Angst, zu kurz zu kommen; Angst, verloren zu gehen, zu verhungern, zu sterben; Angst nicht gehört, gesehen und geliebt zu werden... die Gier nach mehr ist nicht zuletzt auch ein Zeichen für den unstillbaren Durst nach etwas, dass wir im Innern suchen und in dieser Welt nicht finden können.

Die Lösung für die Gesamtheit kann somit nur in der Reifung des Einzelnen liegen. Das bloße Erkennen, dass wir mehr sind, als eine sterbliche Hülle, führt zu Sicherheit und Zufriedenheit; im Erkennen, dass wir im Kern unseres Selbst diese Welt - uns eingeschlossen – kreieren, ist ein liebevolles Miteinander ein selbstverständliches Handeln. Im Gegenschluss bedeutet das aber auch, zumindest vorerst, dass ein derartiges Miteinander wohl eine Utopie bleibt.

Dennoch sind vereinzelt Menschen auf diesem Weg und zugleich auf der Suche nach Anschluss. Die Auswahl ist diesbezüglich begrenzt und taucht in den vorherrschenden gesellschaftlichen Wertesystemen wohl nur als Subkultur auf.
Es braucht eine innere Reife als Voraussetzung für ein wohlwollendes Miteinander. Und ja, die Gemeinschaft von Menschen mit einem hohen Ziel ist erstrebenswert - aus vielerlei Gründen. Wir sprechen über Gemeinschaften, die danach trachten, sich jenseits menschlicher Wünsche und Verlangen (und damit Versuchung) zu bewegen. Welche sich die Entwicklung zum Ziel setzen innerhalb einer fruchtbaren Form der Begegnung.
Für eine Gruppe, welche sich Gott, Brahman oder dem spirituellen Selbst widmet, bedeutet ein gemeinsames Handeln eine Multiplikation von Kraft oder Shakti. Das ist spürbare, oft sehr starke Energie, welche die spirituelle Bemühung beflügelt und erleichtert, und die Bindung zwischen den Mitgliedern dieser Gruppe stärkt.
Die Energie, welche z.B. in einer Meditationsgruppe entstehen kann, die sich diesem Ziel hingibt, wirkt für die Beteiligten wie ein Katalysator. Idealerweise orientiert sich eine solche Gruppe an demjenigen, der in seiner Realisation am weitesten fortgeschritten ist - jemand, der bestimme Transformationen durchlaufen hat, reif dafür ist und weiß, wohin die Reise geht, ohne irgendwelche persönlichen Ziele zu verfolgen. Das ist nötig, damit das Zusammenkommen nicht für profane Zwecke missbraucht wird, wie es manchmal zu beobachten ist.
In einem Kloster kommt diese ordnende Vorbildfunktion immer einem Oberhaupt zu, was Vor- und Nachteile mit sich bringt. Die feste Organisation ist solange ein Vorteil, wie das Oberhaupt realisiert ist und die Ausrichtung rein hält. Es ist ungeheuer wichtig, dass die Ausrichtung hundertprozentig dem Zweck der tieferen Erkenntnis dient.
Deshalb ist es kein normales Miteinander, sondern eine exklusive, nicht alltägliche Oase in unserem sonst recht turbulenten Leben, die überdies nicht jedem offensteht. Nicht, weil es nicht erlaubt wäre, sondern weil es keine persönliche Entscheidungsebene gibt, die dies ermöglicht. Es ist schlicht für die meisten Menschen nicht von Interesse. Sie könnten sich nicht dafür entscheiden, weil es in ihrer individuellen Programmierung keine Option dafür gibt. Es braucht dafür das innere Streben nach Selbsterkenntnis und Transformation.
Auf dieses Ziel konzentrieren sich die Gruppen, über die wir hier sprechen, auch wenn unterschiedliche Begrifflichkeiten gewählt werden. Manche bauen an einem inneren Tempel, andere geben sich Gott hin, wieder andere heizen das Shakti und damit die Kundalini an, um die Realisation zu erreichen. Letztlich beflügeln viele Wege die transformatorische Kraft, welche die göttliche Natur offenbaren kann.
Ja, diese Gemeinschaften sind speziell und es kann auch innerhalb dieser Gruppen zu Schwierigkeiten kommen. Bereits profane Gespräche zwischen Menschen, die zu sehr gedanklich verhaftet sind, können dem intrinsischen Feld das Momentum rauben, welches sich in einer solchen Gruppe als transformatorische Kraft bilden kann. Jeder Einzelne wirkt durch seine Haltung und Ausrichtung mit. Das wichtigste Ziel im Leben sollte idealerweise die Realisation sein – das Erkennen von Gott, der Wahrheit, unserem spirituellen Kern. Nur dann kann sich der Erhalt der Gemeinschaft und das Wohlwollen untereinander jenseits einer übergestülpten Moral bewegen. Ethik und Moral sind anfällig, da sie ohne tiefere charakterliche Wurzeln, wie ein vertrocknetes Blatt im Wind, schnell ihren Halt verlieren.
Natürlich bleibt eine ideale Gemeinschaft nur ein Ideal. Das kann nach meiner Erfahrung ansatzweise in Zusammenkünften erreicht wird, in welchen die Ebene persönlicher Ziele und Wünsche durchbrochen wird und in welchen Liebe ein bedingungsloses Gut ist.
Den meisten von uns bleibt vorerst nur die Arbeit des Erkennen des Selbst und die Freude an den Menschen, die, mit welcher Methode auch immer, einen ähnlichen Lebensweg verfolgen. Die Welt an sich bleibt ein Spielplatz der Möglichkeiten und der Kontraste. Nach Murphys Gesetz: alles, was schief gehen kann, wird auch schief gehen.

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