Vielleicht
liegt es ja daran, dass ich älter werde und in der Lage bin, mich zu
erinnern. Vielleicht erinnere ich mich auch falsch und vielleicht war
es vor ein paar Jahrzehnten nicht besser. Aber korruptes Verhalten,
so scheint es, ist heute normaler und allgegenwärtiger geworden. Ich
kann mich nicht erinnern, dass der Lobbyismus in der Politik je so
offen zur Schau gestellt wurde. Der reibungslose Wechsel zwischen
politischen und wirtschaftlichen Ämtern erfährt lediglich seichte,
folgenlose Kritik; daraus resultierende geschäftliche Beziehungen
und der Fluss von Steuergeldern wird zwar gelegentlich öffentlich
thematisiert, aber Rücktritte von Politikern sind dennoch selten
geworden.
Vielleicht gibt es auch weniger Widerstand in einer
Gesellschaft, wenn die Offenheit für Diskussionen und die Freude an
verschiedenen Ansichten schwindet. In alten Talkshows aus den 60er
und 70er Jahren kann man noch die einst lebendige und offene
Diskussionskultur erleben – unaufgeregte Gespräche aus
verschiedenen Lagern, Menschen, die im undurchdringlichen Nebel aus Zigarettenrauch einander sogar ausreden lassen.
Dieses Echo aus der Vergangenheit wirkt heute fast unwirklich und
befremdlich.
Ist dieser Verfall der Diskussionskultur nicht auch
bereits ein Anzeichen dafür, dass eine Gesellschaft den Übergang
von einer Demokratie in eine andere Verfassungsform besiegelt hat -
so wie von antiken Philosophen wie Platon beschrieben? Nach Platon
wäre die nächste Phase übrigens die Tyrannei, was ungemütlich
aber nicht unbedingt abwegig erscheint. Vielleicht sollten wir präventiv alle wieder mit dem Rauchen anfangen...
Der Sinn für die Werte
einer Gesellschaft müsste vermutlich in einem wesentlichen Teil
selbiger lebendig gehalten werden; das Gefühl einer
gesellschaftlichen Einheit (ganz gleich, wie groß diese sein mag)
durch mediale Bemühungen allen ans Herz gelegt werden. Korrupte
Medien und das Geschäft mit Verunsicherung und Ängsten, mit
Meinungsbildung und subjektiver Berichterstattung tragen doch offensichtlich zu dieser Entwicklung bei.
Soziologische Beobachtungen
gesellschaftlicher Entwicklungen müssten ernst genommen und
entsprechende Gegenmaßnahmen politisch eingeleitet werden. Und wo ich es schreibe merke ich, wie unsinnig und utopisch eine
solche Forderung im momentanen gesellschaftlichen Kontext klingt.
Aber
was passiert zum Beispiel, wenn zu viele Personen zur gleichen Zeit
damit befasst sind, nur noch ihre eigene Position und ihren Status zu
verbessern?
Es war vermutlich schon immer so, dass die
Korruption, d.h. die Bestechlichkeit und damit verbundene
Verführbarkeit, alle Ebenen des menschlichen Lebens durchzieht. Auch
eine Gesellschaft muss ab einem bestimmten Punkt kippen, so wie ein
Teich, der zu wenig Sauerstoff bekommt und in seinem eigenen Saft aus
Bakterien und Abfallstoffen zu modern beginnt.
Gleichgewicht, Fokus und Achtsamkeit scheinen nicht nur für den Einzelnen relevant, sondern sind Werkzeuge, die eine Bedeutung für die gesamte gesellschaftliche Stabilität haben. Bei dem Einzelnen geht viel schief, wenn weder Gesellschaft noch Familie diese Werkzeuge vermitteln können.
Wie bereits oben beschrieben werde ich das Gefühl nicht los, dass die Hemmschwelle gesunken ist, korrupt zu denken und zu handeln.
Korruption am Herzen
Sicherlich,
es gab schon immer diese Menschen, die scheinbar ohne Rückgrat
geboren wurden. Rückgrat im Sinne von Treue und Integrität.
Dabei geht es nicht darum, ob jemand „seinen“ Weg geht und für
seine eigenen Wünsche und Vorstellungen eintritt. Diese können sich
ändern und analog zu den Ereignissen im Leben in Fluktuation sein.
Für mich beginnt die eigentliche Korruption viel früher: weniger in der Welt der Ideen und Vorstellungen, sondern im Herzen.
Herz im Sinne von Treue und Liebe gegenüber unserem Wesenskern,
unserer Seele. Wir haben alle diesen Kern von unendlichem Frieden in
uns, der in Freundlichkeit und Liebe strahlen kann, der frei ist von
Angst und Schuld.
Der Verrat am Herzen lässt sich nicht so leicht rational vom Tisch wischen. Korruption gegenüber unserem Herzen bedeutet, Angst und Gier Raum zu geben. Diese negativsten der Emotionen richten dabei Schaden an uns und anderen an, aber das damit verbundene Abwenden und Vergessen von unserem Herzen wiegt ungleich schwerer. Es ist eine Entscheidung gegen die Freiheit und für die volle Wirkungskraft eines entfremdeten und dualistischen Lebens.
Es
geht nicht um den persönlichen Vorteil. Auch die Treue gegenüber
dem Herzen lässt den Schmerz nicht vermeiden. Wir bleiben Teil
dieser Welt, selbst wenn wir unseren Wesenskern voll realisieren.
Auch ohne schlechte Absichten werden wir manchmal Menschen
verlassen oder werden von anderen verstoßen; unser Verhalten wird
nicht immer auf Verständnis stoßen; wir können als schlechte
Person verurteilt werden, weil wir nicht den Erwartungen entsprechen,
nicht als würdig erachtet oder nicht verstanden werden. Der Schmerz
bleibt immer ein Begleiter, unabhängig davon, ob wir korrupt oder im
Einklang mit uns selbst handeln.
Ein Lebensweg mag dabei vorbildlich und ganz linear oder aber völlig chaotisch in verschiedene Richtungen verlaufen. Das sagt nichts darüber aus, ob jemand bestechlich ist oder nicht. Wir können nichts für unsere Sozialisation und die Eigenschaften, mit denen wir ausgestattet wurden. Das einzige, was wir vermögen, ist unsere Aufmerksamkeit im Augenblick zu beherrschen. Das hat eine Wirkung auf unser gesamtes Wesen und die Menschen um uns.
Wesentliche Werkzeuge
Der
Fokus im Leben ist entscheidend. Verfolgen wir Ziele, wie Erfolg im
Beruf, Ansehen und Einfluss... und können wir nicht beizeiten von
diesen Zielen ablassen, dann öffnen wir die Pforten ganz weit für
korrupte Gedanken und Taten. Liegt die Aufmerksamkeit auf
persönlichen Interessen und den damit verbundenen Gedanken werden
wir letztlich korrupt handeln und dieses Handeln rechtfertigen, wenn
auch mit einem bitteren Beigeschmack, der sich auf Dauer nicht vom
kurzen Rausch des persönlichen Vorteils versüßen lässt.
Moralische Konzepte mögen uns nur bedingt vor schlechten
Taten bewahren. Die auf Moral begründete Bewertung der Handlung
hängt von Herkunft und den verinnerlichten gesellschaftlichen Werten
ab – und diese sind oft fragwürdig und nicht wahrhaftig genug, was
das Instrument der moralischen Vorstellungen gefährlich und im
Grunde nutzlos macht. Moral ist wie das juristische Recht nur eine
Richtschnur für diejenigen, die sich nicht anders zu helfen wissen.
Entsteht Korruption nicht immer aus der Angst, etwas nicht zu erreichen, zu kurz zu kommen, nicht geliebt zu werden, verloren zu gehen oder gar zu sterben? Die Angst vor dem Tod macht uns sicherlich korrupt. Über wie viele Leichen würden Menschen gehen, um ihre eigene Lebenszeit oder die ihrer geliebten Menschen zu verlängern?
Das erlernte Empfinden, ein kleiner Fisch in einem sehr großen Teich zu sein, wird uns alle Vorteile nutzen lassen, um ein etwas größerer Fisch zu werden. Die Realisation, als ewiges Wesen nicht sterben zu können, entspannt diese Ängste, auch wenn der Wille zum Leben ungebrochen bleibt. Der Wille zum Leben kann sich dann in der Liebe zur Wahrheit und gegenüber allen Dingen ausleben.
Dieser
tiefe Respekt gegenüber allen Dingen, der nur aus unpersönlicher
Liebe erwachsen kann, ist wesentlich im Zusammenleben mit anderen
Menschen. Die politische Lösung zur langfristigen Steuerung einer
Gesellschaft bleibt vermutlich eine Utopie, solange der Mensch über
seine niederen korrupten Antriebe nicht hinauswachsen kann.
Die
Motive korrupter Menschen sind meist offensichtlich und
nachvollziehbar. Wer will sie dafür verurteilen? Bleibt unsere
Aufmerksamkeit im Wesentlichen, wo sie hingehört, stellt sich die
Frage nach dem Urteil auch gar nicht. Die Welt zeigt dann von selbst
ihre unwirkliche Natur - ihre wahre Beschaffenheit und die zu
entdeckende Schönheit in Allem wiegt vielfach schwerer.
Alle Bemühungen, unsere Lebenswelt besser zu gestalten, beginnen immer beim Einzelnen und seinem wachsamen Blick auf alles, was im Moment geschieht. Korruption entsteht aus der Vorstellung, in dieser Welt verloren zu sein. Nur durch rechtes Sehen können wir dem Teufelskreis dieser durch Angst motivierten, gesellschaftszersetzenden Handlung entkommen.