Dienstag, 15. Juni 2021

Meinungsfreiheit

War das nicht ein faszinierendes Jahr? Turbulent, verstörend, wechselhaft... da gibt es so einige Attribute, die mir in den Sinn kommen. Für so manchen waren die Ereignisse regelrecht ein Weckruf, der sie aus der träumerisch traurigen Sicherheit riss, die wir Alltag nennen.

Angestachelt durch das mediale Schlachtgetümmel hat sich jeder irgendwie irgendwo positioniert. Unsere Bekanntenkreise teilten sich von unsichtbarer Hand gesteuert in wissende Meinungslager und wir alle mutierten zu Unterstützern, Kollaborateuren, Zweiflern oder Saboteuren zahlreicher Maßnahmen.
Abstand, Masken, Lockdown, Änderungen am Grundgesetz...da passierte viel – für manche zu viel und weckte Sorgen vor zu viel politischer Macht während andere damit beschäftigt waren, sich um ihre Gesundheit und die ihrer Liebsten zu sorgen. Bei den täglichen Meldungen über Neuinfizierte und Todesopfer kein Wunder...

Achtung Ansteckungsgefahr!

Die Infektionswahrscheinlichkeit bezogen auf Corona, Cholera oder Herpes ist die eine Sache. Ich fand es deutlich erstaunlicher, wie leicht und wahrscheinlich es ist, sich mit einer fixen Meinung anzustecken. Selbst für Menschen, die eigentlich keinen Wert auf Meinungen legen.

Dabei sollte ich geschulter sein, was Meinungen anbelangt, dachte ich zumindest.

Ich erinnere mich, wie ich die ersten drastischen Nebenwirkungen intensiver innerer Suche und Meditation bemerkte. Darunter waren einerseits sehr begrüßenswerte Effekte: Ängste vielen weg, vorher unbemerkte Traurigkeit zeigte sich, verschwand und hinterließ Raum für Leichtigkeit... Dinge veränderten sich. Unter anderem konnte ich mich nicht mehr auf meine Meinung verlassen, was auch für mein Umfeld nicht immer einfach war. Meinung war nur noch etwas gestriges.

Meinungshoheit

Sagt man heute dies und morgen das und wird sich darüber klar, dass beides im Grunde keine Relevanz hat, ist man eine wandelnde Herausforderung für andere Menschen. Dabei besteht eigentlich kein Grund für Irritationen. Jeder könnte an sich beobachten, dass die Taten ganz unabhängig von den Meinungen erfolgen. Die spirituellen Erfahrungen können so weit reichen, dass man auf einem Baum sitzt oder unter der Zimmerdecke klebt und seinem Körper da unten zusieht, wie er sein Tagwerk verrichtet.

Auch im dankbaren Zustand gedanklicher Leere macht der Körper einfach sein Ding weiter und unweigerlich kommt irgendwann auf die Frage, wer da eigentlich den Körper steuert.

Es lässt sich jedenfalls feststellen, dass diese menschliche Reise als Beifahrer deutlich angenehmer ist. Man sieht irgendwie auch mehr. Und wenn der Depp am Steuer mal wieder einen Unfall baut ist man zwar involviert aber dennoch ist es nur halb so schlimm.

Meinungen sind jedenfalls im Grunde kein großes Ding. Meinungshoheit wird im angesprochenen Erfahrungsraum zur Meinungshohlheit.

Dennoch, die Tendenz eine Meinung zu bilden, war im vergangenen Jahr besonders intensiv. Ich konnte mich nicht davon frei sprechen, wurde ich doch jeden Tag mit den Meinungen anderer und den gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert. Der Geist hat die Tendenz, sich zu positionieren, um die Welt verständlicher und damit auch erträglicher zu machen. Unser eigentliches Wesen braucht das nicht und kann es auch nicht.

Der Mensch darf meinen

Eine Meinung zu haben ist ein exklusives Recht der menschlichen Erscheinung. So vergänglich wie wir sind, so vergänglich sind auch Meinungen, wobei es nicht schadet, die eigenen Meinungen gelegentlich abzuwerfen, um wieder Raum für neues zu schaffen.

Das ist vielleicht der eigentliche Schlüssel zu dem Problem. Es macht Spaß eine Meinung zu haben und eine Meinung gibt dem Leben eine gewisse Würze aber man muss sich auch davon lösen können. Irgendwann stinkt die Meinung wie ein altes Hemd, das zu lange getragen und nicht gewaschen wurde.

Ich plädiere daher für mehr Meinungsfreiheit im Sinne von Freiheit von jeglicher Meinung – ab und zu zumindest.

Es ist ein tolles Experiment, dessen Wirkung sich nicht bloß auf den Geist beschränkt sondern das gesamte Leben erfasst.