Was bedeutet "leben" für uns? Spielt sich letzlich nicht alles in dem kleinen Erfahrungsspektrum ab, in
welchem „wir“ erleben? Alles andere ist sogenannter „mind-stuff“, d.h. Konzepte, Vorstellungen, Interpretationen. Da gibt es die Erlebnisebene und das, was wir im Kopf an Vorstellungen und Ideen mit uns rumtragen.
Hinzu kommt, alles
ist permanent in Veränderung. Das ist auch eine Interpretation, um das Leben zu beschreiben: es ist ständig in Veränderung und nichts bleibt so, wie es ist. Das schließt uns mit ein: wir
sind auch in Veränderung. Unser Geist, unsere Gefühle, und
insbesondere unser Körper.
Die einzige Konstante, die wir in uns
ausmachen können, ist die Seinsebene, welche unsere Aufmerksamkeit
entstehen lässt; nur über diese Aufmerksamkeit können wir
überhaupt mit Hilfe unserer Sinne erfahren und erleben. Dies ist eine
wichtige Erkenntnis eines jeden nach Wahrheit forschenden Menschen:
die Aufmerksamkeit ist der Schlüssel, da sie innerhalb des
Veränderlichen konstant bleibt.
Unsere
Erfahrungen machen wir täglich innerhalb zwei der drei Phasen, die
wir jeden Tag bzw. jede Nacht durchleben. Einerseits die Wach- und die Traumphase, welche mit Erlebnissen angereichert sind und andererseits die Tiefschlafphase, in welcher wir reines
Sein ohne Erfahrung sind - und damit auch ohne Erinnerung und ohne Anstrengung.
Nichtexistenz, wie im Tiefschlaf ist also auch ein Zustand, der für uns
selbstverständlich und erstrebenswert sein müsste. Unbewusst ist er
das auch, da niemand seinen Tiefschlaf und damit das süße Schwinden
aller Probleme missen möchte. Die Aufmerksamkeit darf dann in ihrer
Quelle ruhen – als Folge erfahren wir Entspannung, Erholung und Heilung für
Körper und Geist.
Rechte Meditation bewirkt etwas ähnliches -
wir erlernen diese Perspektive innerhalb des Tages einzunehmen, was
eine Loslösung von der Person bewirkt und einen Blick in die wahre
Beschaffenheit dieser Welt gewährt und ihre Natur offenbart, die
nicht „fest“ ist, sondern eher wie eine Projektion anmutet.
Der Held der eigenen Story
Die
täglichen Erfahrungen werden nur durch unsere Erinnerung greifbar.
Wie ein unvollständiges Mauerwerk werden Erinnerungen bruchstückhaft
aneinandergereiht, bis sich eine fadenscheinige Geschichte ergibt,
die wir dann unser Leben nennen. Diese Geschichte bzw. die
choreographierten Erinnerungen, aus welchen sie besteht, sind
fehlerhaft, subjektiv, lückenhaft und oft ziemlich verlogen.
Verlogen deshalb, weil das geistige Selbstbild auf eine gewisse
Integrität angewiesen ist. In unserer Erinnerung bearbeiten wir
Ereignisse so lange bis wir damit leben können. Wir bleiben der
„Gute“ in unseren eigenen Story, indem wir andere herabsetzen,
die Ereignisse und die Perspektive drehen, so weit wir es vertreten
können und die Geschichte im Kopf konsistent bleibt. Es ist ziemlich
faszinierend, dass wir das alles am Ende auch noch selbst glauben.
Wer hat noch nie zwei zerstrittene Lager erlebt? Jeder Beteiligte hat
seine eigene Perspektive auf den Streit und jeder hat zweifelsfreie
Beweise für die eigene Unschuld und die Verkommenheit der
Gegenseite. Es wäre fast lustig, wenn es nicht so viel Leid erzeugen
würde.
Die Erinnerung ist damit tückisch, aber ohne Erinnerung bliebe nur der Augenblick. Das Ego bzw. die Person erführe ein Gefühl größter Orientierungslosigkeit. Unser Erinnerungsspeicher, wie intakt oder beschränkt er auch sein mag, gibt uns eine Chronologie und damit einen Anhaltspunkt, wo und wann wir uns befinden („Gestern war ich traurig, allein und krank, heute koche ich gutgelaunt einen Eintopf und morgen muss ich leider wieder zur Arbeit, wo ich mindestens einen Kollegen nicht ausstehen kann.“).
Die Person ist abhängig von dieser Geschichte, so unwahr bzw. so erfunden sie auch sein mag. Unser Geist muss immer in einer Beziehung zur Zeit, zu einem Ort, zu Objekten bzw. anderen Menschen stehen. Ohne diese Koordinaten und nur mit der Erfahrung des Moments würden wir unser menschliches Dilemma gegen immerwährenden Frieden tauschen. Wir könnten aus unseren Erfahrungen weder ein Problem stricken noch könnten wir uns ein angenehmes Ereignis herbeiwünschen. Wir würden völlig im Einklang mit den Ereignissen des Lebens fließen ohne ein Bedürfnis nach Veränderung.
Die Story als Daseinsberechtigung
Die
Person würde vergehen und auf das, was übrig bliebe, möchte kein
Verstand bauen. Es ist für unseren Geist, d.h. unser Denken und
unser persönliches Empfinden, kein guter Deal, die Existenz der
Person und ihre Daseinsberechtigung aufzugeben.
Dabei sind Denken
und Fühlen nichts als mit der Zeit tiefer werdende Furchen unserer
Psyche, durch welche alle Ereignisse strömen, die uns das Leben
schenkt. Das heißt, die Erfahrungen werden mit der Zeit durch immer
gleiche Mechanismen des Geistes verzerrt. Wie ein Automat, der nur
Kaffee und Tee oder aber eine Auswahl an Kaltgetränken ausspuckt,
wird das Leben innerhalb tief geprägter Pfade, unserer sogenannten
Psyche, wahrgenommenen. Die Absurdität einer Idee von einem freien
Willen kann man leicht erkennen, betrachtet man ältere Menschen und
ihre Gewohnheiten, Muster und eingefahrenen Verhaltensweisen, die
manchmal wie eine Satire von Loriot anmuten. Die Person ist doch von
Kindheit an lediglich ein Produkt ihrer eigenen Vergangenheit und
entscheidet immer aufgrund vergangener Prägungen.
Der
Versuch, dem entgegen zu arbeiten und das Bemühen, die Denkweise und
das Verhalten zu ändern, ist sicherlich nicht falsch, aber letztlich
auch ein verlorener Kampf gegen die Zeit, den niemand gewinnt.
Der
totale Reset welcher durch das Fallenlassen des Geistes und seiner
Prägungen entsteht ist ungleich nachhaltiger und befreiender. Der
begnadete Lehrer Nisargadatta Maharaj erklärte, dass die
Realisierung der wahren Natur nur durch das Sterben der Person
während der Lebenszeit erfolgen kann. Unser eigentliches Selbst kann
niemals sterben, da es nie geboren wurde.
Westlicher, dominanter Geist
In
der Umsetzung bedeutet dies, die Ereignisse und Erfahrungen im Leben
aus der Perspektive des Seins und diesen angelernten Impuls aus dem
Zustand der Loslösung lediglich zu beobachten, jedoch nicht die
Aufmerksamkeit darin zu verlieren. Das ist leichter gesagt als getan.
Es bedarf für die meisten Seelen einer Zeit der Annäherung; einer
Zeit der Meditation, der Reflektion und des Lernens.
Insbesondere
für uns westliche Menschen scheint es nötig, den Umgang mit einem
starken Geist zu erlernen und diesen durch sich selbst auszuhebeln,
sind wir doch durch unsere Erziehung darauf trainiert, alles zu
analysieren und uns gedanklich mit allem auseinander zu setzen. Unser
Geist ist so stark, dass er sich alles zu eigen macht, sogar
spirituelle Erlebnisse, und diese einer Person zuschreibt.
Empfehlenswert und beispielhaft in diesem Zusammenhang ist z.B. das
Buch „Dialogues of Reality“, von Robert Powell; er ist ein
Schüler Nisargadatta Maharaj´s, welcher als Westler mit einer
akademischen Ausbildung eine für uns nachvollziehbare Sichtweise
einnimmt.
Unsere westliche Ausrichtung ist nun einmal auf die Erhöhung des Individuums konzentriert und damit auf die Priorisierung unserer Person. Innerhalb einer säkularisierten Gesellschaft erfordert dies ein tiefes Verständnis um die eigene Natur und die Trittfallen, in welche unser Geist ständig tappt.
Das ist ein Schlüssel für die Entkrampfung der Aufmerksamkeit, welche sich das gesamte Leben in die winzige Wahrnehmungsebene einer Person und ihres Geistes gezwängt hat. In der Loslösung der Aufmerksamkeit von dem Glauben an die Realität dieser Person liegt der Schlüssel zur eigentlichen Befreiung.