Sonntag, 6. September 2020

Memento mori


Memento mori

Memento Mori“ ist die Aufforderung, sich des eigenen Sterbens bewusst zu werden, sich an seine Sterblichkeit zu erinnern. Ursprünglich beruht dieser lateinische Spruch auf einer Bewegung in der mittelalterlichen Kirche. Ausgehend vom Benediktinerkloster Cluny in Burgund, sollte dieser Spruch die Ernsthaftigkeit im klösterlichen Handeln bestärken. Der Tod kommt schneller, als dir lieb sein mag, also nutze die Zeit besser mit Frömmigkeit und Gewissenhaftigkeit im klösterlichen Leben. So stärkten die Benediktinermönche ihre Konzentration auf die geistige Welt und ihre Regeln, da das irdische Leben nun einmal vergänglich ist.
Dieses Thema findet sich natürlich auch an anderen Stellen in der Geschichte, nicht nur im Mittelalter, und es wird die Menschheit immer inspirieren, auch wenn die meisten Menschen ein „Memento mori“ als morbide und vor allem als überflüssig ansehen. Mit dem Ergebnis, dass der Tod verdrängt und das näher rückende Sterben mit Angst belegt sein wird. Der eigene Tod scheint ein verdrängenswertes Ereignis zu sein, mit dem man sich nur befasst, wenn es um die Weitergabe des Mammons geht und das Erbe geregelt werden soll. Man befasst sich lieber mit dem Leben und vertraut darauf, dass es hoffentlich länger als erwartet sein wird.
Dabei sterben wir jede Nacht. Im Tiefschlaf sind wir nicht mehr vorhanden, auch wenn uns der Verstand etwas anderes sagen mag, indem er daran erinnert, dass wir lediglich friedlich im Bett lagen und der anbrechende Tag auf uns wartete. Die Realität ist aber, dass wir in den Stunden des Tiefschlafs als Person nicht stattfinden. Keine Gedanken, denen wir beharrlich folgen, kein Körperempfinden, dass uns unsere Existenz bestätigt, keine Erlebnisse, die uns so wichtig sind. Es ist umso komischer, dass dies die erholsamsten Stunden im 24 Stunden Zyklus eines Tages sind. Niemand ist zudem erfreut darüber, aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden, aus dem süßen Nichtsein. Das Leben weist uns also bereits jeden Tag aufs Neue darauf hin, dass unsere Nichtexistenz kein Drama ist, sondern ein äußerst entspannter Zustand.
Betrachten wir es rational, dann ist unser Leben nicht lang – das realisieren wir spätestens in der sogenannten Mitte des Lebens. Unser „food body“ wie Nisargadatta Maharaj unseren Körper nannte, existiert nur eine relativ kurze Zeit und auch nur, solange er gefüttert wird. Er ist das wundersame Produkt von Eizelle und Sperma und wird erhalten durch die Nahrung, die wir in eine Öffnung im Kopf einführen. Die Nahrung wandert durch den Körper, der automatisch die wesentlichen Nahrungsbestandteile nutzt und den Rest durch eine andere Körperöffnung am anderen Körperende wieder ausscheidet. Das ist alles wie ein sehr merkwürdiger Traum und hat nichts mit unserem eigentlichen Wesen zu tun, dennoch stellen wir eine Beziehung zu diesem Körperautomaten her. Diese Beziehung geht so weit – und das ist das eigentliche Dilemma - dass wir uns komplett mit diesem Körper und den Gedanken und Gefühlen, die er uns vermittelt, identifizieren.
Das „Memento mori“ kann eigentlich nur als Chance betrachtet werden, diese Identifikation in Frage zu stellen. Vielleicht wehren wir uns ja so sehr gegen den Tod, weil er einfach nicht wahr ist. Lassen wir unsere Gedanken und Erinnerungen bzw. unsere sogenannten Lebenserfahrungen, die in der Erinnerung stattfinden, weg, dann schaut das immer gleiche Wesen aus unseren Augen, ganz gleich, wie alt der Körper sein mag. Dieses Wesen ist so nah, dass wir es übersehen. Gedanken können es nicht erfassen. Wir werden uns seiner nur bewusst, wenn wir gelernt haben, still zu sein.
Somit ist ein Gedenken an den eigenen Tod in erster Linie eine Motivation bereits während des Lebens zu sterben, was bedeutet, sich, während man noch atmet, seiner eigenen Natur bewusst zu werden. Zu erkennen, dass das niemals geboren wurde und damit niemals sterben kann. Diese Erkenntnis kann in jedem Menschen erwachen, niemand muss daran glauben.
Der Glaube kann ein Werkzeug sein, aber er ist beileibe nicht notwendig, in den meisten Fällen sogar eher hinderlich. Es geht vielmehr darum, beharrlich zu forschen und alles genau zu beobachten, ohne sich durch Geist und Glaube zu beschränken. Wir sind z.B. in der Lage, jede Bewegung und jede Stille in unserem Gedankenleben zu erkennen. Warum? Weil wir kein Gedanke sind, sondern das, worin Gedanken stattfinden können. Dasselbe gilt für unseren Körper: jede Empfindung, jedes Magengrummeln, jedes Jucken und Zwicken können wir aufmerksam verfolgen. Wir existieren vor dem Jucken, während und danach. Es findet in uns statt, der ganze Körper findet in uns statt. Wir können mit geschlossenen Augen alle Geräusche wahrnehmen: Musik, Autos, das Rauschen der Blätter, Vogelgezwitscher... alle Geräusche finden in uns statt und machen uns deutlich, dass wir das Zentrum von allem sind, dass sich alles in unserem Bewusstsein abspielt. Das ist die direkte Erfahrung, die Realität. Die Gedanken wollen uns eine andere Geschichte erzählen, die Story von uns als Körper in der Welt, der etwas wahrnimmt und darin lebt – eine Geschichte, die rein gar nichts mit der Erfahrung zu tun hat, sondern lediglich ein Glaube ist. Das Leben an das wir Glauben ist ein Gedankenkonstrukt, dass leicht widerlegt werden kann, wenn wir denn nur einen Moment innehalten.