Ich
schreibe hier meist über das Thema Selbstrealisation und wir sind alle mehr oder weniger
offensichtlich Teil dieses Entwicklungsprozesses. Im Falle
derjenigen, die sich die Mühe machen, z.B. solche Texte zu lesen,
ist der Prozess bereits etwas brennender und damit auch deutlicher zu erkennen. Das Wort
oder der Begriff der Selbstrealisation ist im Übrigen nicht weniger
unglücklich als alle anderen Worte, die verwendet werden könnten,
um zu beschreiben, was kaum in Worte zu fassen ist.
Mit Selbstrealisation gemeint
ist zunächst immer eine Bewegung des Bewusstseins zu seiner Quelle
bzw. dem Ursprung allen Seins. Das Bewusstsein an sich ist dabei
bereits unpersönlich und trägt die Anteile, die uns als Mensch
wahrnehmen lassen, als kleinsten Teil seiner Realität in sich. Das umfasst die
Anteile des Geistes und des Körpers und auch alle kausalen Anteile, die uns eine bestimmte Form im Leben bescheren.
Das bedeutet, nach dieser Definition ist das Bewusstsein nicht auf
die menschliche Psyche beschränkt, sondern es bedingt diese Psyche,
den Körper und die gesamte Welt – alles entsteht im Bewusstsein in
jedem Augenblick. Dieses Bewusstsein ist universell und damit allumfassend:
die ganze Welt bzw. alle Welten. Bewusstsein kann entsprechend auch als die schöpferische
Ebene verstanden werden.
Dem
Bewusstsein wiederum liegt ein Ursprung zugrunde, welcher nicht mehr definiert
werden kann. Er ist das, was immer war und was vor und nach jeder
Schöpfung ist.
Aus
dieser Anschauung heraus wird deutlich, wie beschränkt das
menschliche Bewusstsein ist, sofern es sich fokussiert auf den Körper
und den Geist - mit den Bestandteilen des Verstandes, der Erinnerung
und der Emotionen. Diese Beschränkungen aufzulösen bedeutet
wiederum, die Fokussierung auf diese menschliche Realität aufzugeben
und sich in der vollen Größe des Bewusstseins zu entspannen.
Ich sage hier ganz bewusst „entspannen“. Eine Anstrengung ist
nicht förderlich, auch wenn dies zunächst paradox klingt und alle anfänglichen Bemühungen nicht sonderlich entspannt anfühlen.
Drang
und Motivation
Der
Wunsch nach Selbstrealisation bzw. die Entscheidung, das Leben nach
diesem Ziel auszurichten, äußert sich im Menschen als ein
eigentümlicher innerer Drang. Er ist nicht vergleichbar mit jeder
anderen Motivation, die uns im Leben antreibt.
Dieser
Drang beruht auf keiner Entscheidung, keiner Überlegung. Dieses
innere Drängen ist unbedingt, bedarf auch keiner speziellen
Vorgeschichte und kann Menschen ohne spirituelle Vorprägung ganz
plötzlich treffen.
Ich
kann nicht sagen, dass dieser menschlich evolutionären Bewegung ein
Plan zugrunde liegt. Es wäre falsch, dies anzunehmen und ebenso
falsch, eine Art göttlichen Plan zu negieren. Es spielt, und das ist
das Entscheidende, auch überhaupt keine Rolle. Jeder Gedanke um
eine göttliche Absicht ist ein Gedanke zu viel und auch nicht
hilfreich. Wichtiger ist es, die Aufmerksamkeit auf diese spürbare
Kraft zu legen, die alles durchdringt und nicht auf irgendwelche
Ideen oder Vorstellungen, die den Fokus wieder auf Bewegungen im
Geist beschränken.
Es
gibt natürlich keine Standardbiografie, die eine typische
Erwachensgeschichte beschreibt. Das Bewusstsein, dass sich wieder in
seine wahre Natur entspannt bzw. erwacht und damit den Fokus „Mensch“
verlässt, kann unzählige Wege beschreiben. Da ist eine unfassbare
Vielfalt in dieser Welt, die verschiedenste Biographien des Erwachens
hervorbringt, inklusive mannigfaltiger Umwege.
Die
wenigen, welche relativ direkt und geradlinig die angedeutete
Selbstrealisation anstreben, besitzen eine gewisse Reife und Form der
Hingabe. Es sind diejenigen, die bereit sind, alles zu opfern, ohne
sich eines Opfers bewusst zu sein. Der Tod ist für sie kein
Schreckgespenst mehr, da sie erfahren, dass sie nicht sterben können.
Das einzige, das sterben muss und was herbeigesehnt wird, ist der Tod
des Glaubens an eine Person in einer Welt.
Bei
den meisten Menschen ist der Geist aber derart stark und das
Bewusstsein sehr in diesem Fokus auf Körper und Geist gefangen, dass
diese innere Drängen in erster Linie in persönlichen Eifer
transformiert wird.
Eifrige
Yogis
Eifer
ist grundsätzlich nichts falsches – er ist ein Ausdruck unseres
Geistes und hat eine Vorstellung, ein mentales Ziel als Treibstoff
und Grundlage. Ohne dieses Ziel würde dem Eifer die Ausrichtung und
die Kraft zum Handeln fehlen. Eifer lässt sich befeuern mit
Visualisierungen, Plänen oder auch Verträgen, die jemand mit sich
selbst oder anderen macht – dies betrifft sämtliche mentalen
Konstrukte, welche z.B. in Erfolgsratgebern zu finden sind. An dieser
Stelle erkennen wir schon sehr leicht die verschiedenen Dimensionen,
in welche die Motivation nach Entwicklung fließen kann.
In
vielen Fällen geht es dabei immer um eine Verbesserung der Person,
um eine persönliche Bereicherung bzw. um ein Ziel, welches für die
Person wichtig ist oder gar um die Erschaffung einer ganz neuen,
großartigen Persona.
Bei der oben angesprochenen Realisation des
eigentlichen Selbst geht es um das genaue Gegenteil. Für die Person
gibt es dabei nichts zu holen. Ein Umstand, welcher den meisten Menschen eher Angst macht.
Ich
hatte es bereits angedeutet: die Motivation, von der wir sprechen,
kommt von einer anderen Ebene und äußert sich auf eine geradezu
mystische Weise. Und trotz dieser spürbaren Erhabenheit kann sie
leicht, obwohl sie unpersönlicher Natur ist, von der Person
okkupiert werden; die Person macht sich dieses Ziel zu eigen. Das
geschieht sehr oft und ist als ein Teil der Entwicklungsvielfalt
anzusehen.
Da
gibt es dann diesen ursprünglich reinen, inneren Ruf, dieses starke
Drängen. Die Schöpfungskraft erlaubt dem ungezügelten menschlichen
Geist, daraus ein Ziel im Leben zu formen. Auch dies ist ein Teil der
Erwachensbiografie.
Der
Mensch wird zu einem Helfer für andere mit starken persönlichen
Interessen und wirkt z.B. als Yogalehrer, Heiler, spiritueller
Lehrer, Lebenshelfer. Viele weitere Formen des Ausdrucks sind an
dieser Stelle denkbar. Dem inneren Drang nach Selbstrealisation wird
auf die bestmögliche Weise entsprochen.
Spiritualitätsfalle
So formt sich im besten Fall aus diesem persönlichen Weg eine Möglichkeit des
unpersönlichen Dienens und der Selbstvergessenheit. Persönliche
Wege können aber auch anders verlaufen und zu einer noch stärkeren
Identifikation mit einer neu kreierten spirituellen Persona führen.
Aus
einer absoluten Perspektive spielt das alles keine Rolle aber von
einem individuellen Standpunkt kann dies ein Rückschritt sein, da es
oft vielfach schlimmer ist, „spirituell“ zu sein, als eine
stinknormale Person, die einem langweiligen Job nachgeht und sich für
nichts besonderes hält.
Die
Erhöhung der Person ist eine typische Falle auf dem spirituellen
Weg, die für die Betroffenen extrem schwer zu erkennen ist. Die
Person schützt sich immer selbst und nimmt jede Form der
Identifikation ein, um nicht verloren zu gehen. Eine spirituelle
Person hat es dabei besonders schwer, da sie ihren Weg rechtfertigt
und ihr Handeln immer entschuldigen kann. Sie redet sich z.B. ein, dass sie nur anderen dienen möchte und erkennt ihre Abhängigkeit von Anerkennung und materiellen Vorzügen nicht. Manchmal ist einer solchen
Person nicht zu helfen, da sie ja bereits alles (besser) weiß.
Raus aus der Falle
Diese Falle ist natürlich relativ und es gibt auch kein wirkliches Problem. Dennoch sind da in diesem Paradoxon zwischen absolutem und relativem Weg hilfreiche Möglichkeiten, die innerhalb unserer menschlichen Realität hilfreich sind.
Die
Fragen, die sich jemand in dieser Position stellen kann, um dieses
Dilemma aufzulösen, sind relativ einfach und tun bestenfalls weh:
Kann
ich jetzt mit allem, was mir wichtig scheint, aufhören?
Bin
ich bereit, niemand zu sein und damit unter Umständen auch ein
Niemand zu werden?
Kann
ich einfach das sein, was ich niemals nicht sein kann?
Es solte so radikal gefragt werden, da eine andere Herangehensweise nicht
zielführend wäre und der Geist immer neue Entschuldigungen für
sich selbst findet. Es erfordert etwas Wachsamkeit und auch Gnade, um nicht in
diese Falle zu tappen.
Gnade,
da es ist die Person aus sich selbst heraus nicht schaffen kann. Sie
kann lediglich den Geist schulen, um nicht in die immer gleichen
gedanklichen Fallen zu tappen. Die Gnade sind die Umstände, die
Lehrer, die innere Kraft, einfach alles, was uns das universelle
Bewusstsein in dem Moment zur Verfügung stellt.
Das
Internet ist voll mit interessanten Menschen, die ein spirituelles
Erwachenserlebnis hatten, und nun versuchen, als
Lehrer gut davon zu leben. Anstatt sich gesellschaftlich zurück
zu ziehen und das Erlebnis zu vertiefen suchen sie etwas im Außen. Das ist dem Mindset unserer
Erfolgs-Gesellschaft geschuldet und dem Impuls, den Erfolg zu
präsentieren. Wir sind gesellschaftlich ungeschult in den Wegen der
Selbstrealisation, was oft seltsame Blüten und
Lehrerpersönlichkeiten kreiert.
Wirft
man einen Blick auf alte Schulen des Zen oder des Advaita Vedanta,
dann ist das Erwachen lediglich ein erster Schritt. Nach den ersten
Erwachenserlebnissen werden den Schülern in diesen Traditionen Jahre
der Meditation und des Rückzugs angeraten.
Das
bedeutet nicht, dass vor diesem ersten Schritt oft nicht zuerst alle
(weltlichen) Bemühungen unternommen werden, um die Person zur
Befreiung von allen Leiden zu führen. Ähnlich wie in Hermann Hesses
Erzählung „Siddharta“, in welcher der Protagonist zunächst alle
Versuche im Leben unternimmt – von spirituellen Bemühungen bis hin
zu weltlichen Bestrebungen des Erfolgs und der Selbstverwirklichung.
Kein Weg führte zum Ziel der Befreiung. Letztes Endes mündeten aber
die Bemühungen in der Resignation und im selbstvergessenen, stillen
Sitzen an einem Fluss. Diese Entspannung im selbstzufriedenen
Betrachten des Flusses führte Siddharta zur Erleuchtung. Wichtig ist
in dem Zusammenhang aber auch die Erkenntnis, dass alle
vermeintlichen Fehler und Umwege nötig waren, um die Bereitschaft
für das selbstvergessene Sitzen am Fluss zu ermöglichen.
Das Leiden ist es dann auch letztendlich, welches jeden Umweg rechtfertigt. Die Identifikation mit der Person ist immer mit Leiden verbunden, da es für keinen Menschen immer nur gut läuft. Dafür sorgt unsere duale Welt, für die Adjektive wie super und toll nicht ausreichen.
Das unverständliche Ziel
Die
Realisation dessen, was wir sind, bedarf des
Unterscheidungsvermögens. Wir können nichts sein, was wir
beschreiben können. So wie der Weg kein persönlicher ist, so sind
weder das innere Drängen noch das innere Verstehen persönlicher
Natur. Worte sind dabei immer zu viel, auch wenn sie nötig sind, um
den Geist eine gewisse Aufmerksamkeit zu ermöglichen, damit er sich
vor sich selbst schützen kann.
Das
eigentliche Verstehen findet nur in der Stille statt. Somit muss
unterschieden werden zwischen dem, was immer war oder dem, was in der
Stille gewahr wird und auf der anderen Seite den Objekten, die
erscheinen und die immer einen Gegenspieler brauchen.
Die
Quelle ist das, was kein Zweites kennt. Das, was als nondual
beschrieben wird, entbehrt jeder Beschreibung. Das Gute braucht das
Schlechte, um als gut erkannt zu werden. Jedes Ding braucht einen
Gegenspieler, damit wir es beschreiben können: Glück und Unglück,
das Schöne und das Hässliche, ich und die anderen.
Lassen
wir uns in Stille auf das ein, was wir nicht fassen können, kommen
dabei ganz natürlich Glück, Freude, Licht und andere Phänomene auf. Es
sind Marker auf dem rechten Weg; Reaktionen in Geist und
Körper. Sie sind aber niemals das Ziel und nichts, woran man sich klammern sollte.
Die Person muss still werden, um zu
begreifen, dass sie die Fragen nicht beantworten kann. Die
Bereitschaft dafür bedarf meist einiger Umwege. Manchmal schmecken
Menschen an diesem Weg, um sich schnell einer anderen Möglichkeit
der Selbstentfaltung zuzuwenden. Das ist völlig in Ordnung. Es gibt
keine echten Regeln, da diese der Vielfalt niemals gerecht werden
können. Aber es gibt einige Marker und Hilfestellungen, an denen man
sich orientieren kann.