Samstag, 21. August 2021

Wenn der Gedanke 2x klingelt

Wie viele Gedanken hat der normale Mensch so am Tag? Hunderte... oder Tausend?
Nach kurzer Recherche im Netz findet man da Größenordnungen von 35.000-70.000 Gedanken am Tag. Nimmt man davon einen ungefähren Durchschnitt kommt man auf 18-20 Millionen Gedanken im Jahr. Ich denke, das könnte so in etwa stimmen. Klingt jedenfalls nach viel Arbeit im Kopf...

Gedankenstränge

Dabei müsste eigentlich unterschieden werden zwischen zwei Gedankensträngen, die man als aufmerksamer Beobachter leicht erkennen kann.
Der eine Strang an Gedanken ist sehr allgemein, unbewertet und nahezu unbemerkt. Darunter fallen Gedanken, wie: „da ist ein Baum“, „ein Auto fährt vorbei“, etc. Es sind wertfreie Gedanken, die keinen persönlichen Bezug haben und die auch keine Probleme schaffen.
Dann ist da noch der zweite Strang an Gedanken, der den Kern unseres Egos bildet, da er die ersten Gedanken persönlich einfärbt. Aus dem Gedanken: „jetzt einen Salat machen“ wird „ich habe Sorge, der Salat schmeckt meinen Gästen nicht“. Hier werden die Gedanken mit Erinnerungen und Erwartungen verknüpft, welche wiederum Emotionen triggern.

Ohne diesen zweiten Strang an Gedanken gäbe es keine wirklichen Probleme. Wir würden uns als räumliche undefinierte Wesen wahrnehmen, die lediglich Beobachter dieser Welt sind. Das mag nicht für jeden attraktiv klingen. Es ist aber ein ungemein schöner und befreiter Zustand, der sich sehr natürlich anfühlt.

Die meisten Menschen können erfahrungsgemäß nicht aufhören zu denken, auch nicht, wenn sie dazu aufgefordert werden oder es aus eigener Kraft versuchen. Die Aufmerksamkeit hört unaufhörlich dem Strom der Gedanken zu und versinkt regelrecht darin.
Das bedeutet, unser einziges Kapital über welches wir tatsächlich verfügen, nämlich unsere Aufmerksamkeit, versinkt im steten Fluss meist überflüssiger, alles kommentierender Gedanken.

Die Grenze zum Irrsinn

Noch erschreckender ist vielleicht die Aussage, die ich in einem Artikel auf Zeit online fand, dass lediglich 15 Prozent der Gedanken als positiv bewertet werden können. Andere Quellen sprechen sogar von nur 3 Prozent positiven Gedanken. Immer soll im Verhältnis der Anteil negativer Gedanken deutlich höher sein. Die Zahlen mögen vielleicht innerhalb der Beobachtungen drastisch abweichen. Es geht an dieser Stelle nicht um die Analyse einzelner Studien, sondern um die nachvollziehbare Aussage, dass wir viel und oft zu schlecht denken. Das bedeutet, es wäre besser, könnten wir den inneren Kommentator besser im Zaum halten.

Ein überaktives Gedankenleben geht so weit, dass Menschen endlose innere Diskussionen und sogar imaginäre Streitgespräche führen und irgendwann kaum noch unterscheiden können zwischen den tatsächlich stattgefundenen und den eingebildeten Gesprächen. Wer in dem Zusammenhang schon einmal Ziel höchst seltsamer und abstruser Anschuldigungen war, etwas Bestimmtes gesagt oder getan zu haben, weiß vielleicht worüber ich hier schreibe.

Sicherlich liegt ein Problem darin, dass sich das Gedankenleben mit Glaubenssätzen belädt. Alleine der Glaubenssatz, dass die beobachteten Gedanken wichtig oder richtig sind, ist absurd.
Der Glaubenssatz an sich besteht dabei aus sich selbst immer wieder bestätigenden Gedanken. Etwas wird als Tatsache akzeptiert und unsere Beziehung zur Lebenswelt gestaltet sich um diese fixe Vorstellung. Glaubenssätze, wie: „Person xy ist böse“ oder „ich bin wertlos“, werden und müssen sich immer wieder selbst bestätigen. Ein unbestätigter Glaubenssatz würde die Integrität desselben in Frage stellen und damit auch die Integrität des Egos. Das Ego ist lieber wertlos und suizidgefährdet als nicht existent.

Das Ego, eigentlich nur bestehend aus Gedanken und Glaubenssätzen, erschafft die scheinbare Integrität zwischen körperlichen und geistigen Phänomenen und kreiert damit eine Person, die es in der reinen Erfahrung nicht gibt. Zudem stellt es eine Abgrenzung zwischen Subjekt und Objekt her. Dieses Konstrukt aus Erinnerungen und fixen Ideen wird sich immer selbst schützen.

Gruppenwirkung

Ein stark verbreitetes, negativ gefärbtes Gedankenleben ist gesellschaftlich betrachtet durchaus ein Desaster. Es bedeutet, wir befruchten uns gegenseitig mit unangenehmen Schwingungen, welche wiederum zu negativen Emotionen und einer tendenziell negativen Haltung führen.

Erschwerend kommt hinzu, dass es einfacher ist, eine Gruppe von Menschen mit einer negativen Stimmung anzustecken als das Gegenteil zu tun und die Gruppe auf ein hoffnungsvolles oder vielleicht sogar glückliches Niveau anzuheben. Es reicht bereits ein richtig mies gelaunter Zeitgenosse, um eine Gruppe von Mitmenschen mit schlechter Stimmung anzustecken.
Ich sage immer, man sollte äußerst umsichtig sein, mit wem man so seine Zeit verbringt.

Hut ab vor Künstlern, die alleine einen ganzen Saal zum Lachen bringen können. Das ist kein leichtes Unterfangen, wird aber zumindest durch den Fokus und die gute Absicht der (hoffentlich) meisten Zuschauer erleichtert, eine schöne Zeit verleben zu wollen. Ohne gute Absicht hat es der Künstler nicht nur schwer, sondern seine Bemühungen bleiben garantiert wirkungslos.

Wie immer, können wir nur bei uns selbst beginnen, etwas an unserem inneren Fokus zu ändern.

Übung der Gedankenkontrolle vs. professionellem Nichtstun

Die Idee liegt nah, das Gedankenleben aktiv kontrollieren zu wollen, um über positive Gedanken direkt die Lebensqualität zu erhöhen. Wir müssen nicht darüber diskutieren, dass negative Gedanken nicht gut für uns sind und das Leben auf allen Ebenen verschlechtern.

Entsprechend möchte ich den Versuch der Gedankenkontrolle auch gar nicht als ein schlechtes Vorhaben verurteilen. Es gibt Übungen, die durchaus einen guten Effekt haben. Ich habe da in der Vergangenheit ein paar Praktiken getestet.

Wie zum Beispiel das positive Denken im Intervall: Über einen Zeitraum von 2 Stunden muss man in jeder einzelnen Minute für 10 Sekunden intensiv an etwas Positives denken.
Klar, es ist ziemlich herausfordernd, das 2 Stunden durchzuhalten. Die Übung funktioniert am besten mit einem Intervalltimer... und viel Ausdauer. Dabei wird trainiert, die Aufmerksamkeit auf positive, aufbauende Gedanken zu legen. Es ist anfangs nicht so leicht, jede Minute eine positive Vorstellung ins Bewusstsein zu bringen – nach 2 Stunden wird es aber zu einer Art Gewohnheit. Es lohnt sich, dies wenigstens einmal auszuprobieren.

Das ist eine spannende Übung, die sich aber in meiner täglichen Übungspraxis nicht durchsetzen konnte, da mein Bestreben immer darin lag, meine innere Natur kennenzulernen und dem näher zu kommen, was für diese ganze wunderbare Kreation verantwortlich ist. Und dafür gibt es direktere Wege, welche beiläufig auch die Beziehung zu aufkommenden Gedanken drastisch verändern. Die Wege sind aber für jeden verschieden, deshalb wollte ich andere Möglichkeiten wenigstens kurz anreißen.

In spirituellen Traditionen begegnet man immer wieder der Aussage, dass die Freiheit von Gedanken ein wichtiger Faktor für die spirituelle Entwicklung ist... nun, eigentlich muss die Aussage präzisiert werden. Es geht eigentlich nur um die Freiheit vom oben angesprochenen zweiten Gedankenstrang.

Das ruhige, absichtslose Sitzen und reine Beobachten hat sich für mich als Offenbarung herausgestellt. Ja, ja, es sieht aus wie Nichtstun aber es ist viel erfüllender als jede Form des Nichtstuns, von der ich zuvor glaubte, dass es Nichtstun sei. Gutes Nichtstun ist eine Kunstform, die meistens viel Zeit erfordert, damit man es zur Meisterschaft und ultimativen Befreiung bringen kann. Sie hat auch rein gar nichts mit Untätigkeit oder Faulheit zu tun. Im Gegenteil, es erfordert einen enormen Fokus, um die Art der Wahrnehmung zu ändern, mit der wir aufgewachsen sind.

Dazu müssen wir lernen, unsere Aufmerksamkeit zu bemerken, was erst einmal widersprüchlich klingt. Reines Beobachten erlaubt es, noch vor dem inneren Kommentator alles zu bemerken. Wir erkennen z.B. den Gedanken und die Bewegung im Geiste, diesen Gedanken interpretieren und färben zu wollen. Wir erkennen die damit verbundenen Gefühle, die körperlichen Empfindungen. All dies wird durch reines Beobachtung zu einem einzigen zusammengehörigen Phänomen im Raum.
Das Beobachten ist etwas, das wir automatisch immer tun. Wir müssen uns nun aber mit dem identifizieren, was die Gedanken und alle anderen Erscheinungen bemerkt. Das bedeutet nichts zu tun und sich innerlich weit zurückzulehnen und zu entspannen.
Es geht auch nicht darum, den Geist oder die Gefühle zu beruhigen, sondern das zu spüren, was der Kern unserer Aufmerksamkeit ist. Immer wieder diesen Kern des Ichs zu berühren, der vor jeder Erscheinung bereits da ist.

Aus der Tiefe an die Oberfläche blicken

Die Aufmerksamkeit selbst entspringt nicht dem Geist, sondern kommt aus einer tieferen Ebene des Selbst. Das Bewusstsein wird für die Forschung immer ein Rätsel bleiben, da es nicht ergründbar ist. In der Praxis lernt man, es nicht zu verstehen, sondern es einfach zu sein. Dabei stößt man auf Phänomene des tieferen Bewusstseins (andere würden „höher“ sagen), welches geprägt ist von Qualitäten wie Frieden, Liebe und Ausdehnung. Diese Phänomene sind ein erster guter Halt für das aufmerksame Beobachten. Wir können die Aufmerksamkeit darin fixieren und diese schönen Qualitäten als unsere wahre Natur akzeptieren.

Es gibt aber den Punkt, an welchem wir auch diese Phänomene loslassen und tiefer gleiten. In ein stilles Nichts, in welchem die Kreation verschwindet. Bevor es aber dazu kommt werden wir erkennen, wie sich die Art, Gedanken wahrzunehmen geändert hat. Sie kommen jetzt langsamer, gehören nicht mehr wirklich zu uns, sondern sind ein allgemeines Phänomen. Wir sehen, dass es nicht unsere Gedanken sind und sie sich im Zusammensein mit anderen Menschen verändern oder fremd werden – wir teilen alle einen Gedankenraum, der nun sichtbar wird.

Es ist ein Raum, der nicht mehr unsere Identität ist, obwohl er noch unsere alltäglichen Handlungen bestimmt. Wir sehen, wie Körper und Geist reagieren aber diese Reaktionen über die Zeit schwächer werden, da sie von der Aufmerksamkeit nicht mehr bestärkt werden. Wir können befreiter unserer Arbeit nachgehen, ohne z.B. Gedanken über das Urteil anderer verfolgen zu müssen.

Aber welchen Weg auch immer wir gehen, um das wild wuchernde Gedankenleben in den Griff zu bekommen. Irgendwas sollte getan werden und das sollte genauso selbstverständlich sein, wie die regelmäßige Körperpflege. Im Grunde stellt es die Lösung all unserer Probleme dar, oder?