Samstag, 8. Januar 2022

Ansatzpunkte für den westlichen Menschen

Was bedeutet "leben" für uns? Spielt sich letzlich nicht alles in dem kleinen Erfahrungsspektrum ab, in welchem „wir“ erleben? Alles andere ist sogenannter „mind-stuff“, d.h. Konzepte, Vorstellungen, Interpretationen. Da gibt es die Erlebnisebene und das, was wir im Kopf an Vorstellungen und Ideen mit uns rumtragen.
Hinzu kommt, alles ist permanent in Veränderung. Das ist auch eine Interpretation, um das Leben zu beschreiben: es ist ständig in Veränderung und nichts bleibt so, wie es ist. Das schließt uns mit ein: wir sind auch in Veränderung. Unser Geist, unsere Gefühle, und insbesondere unser Körper.
Die einzige Konstante, die wir in uns ausmachen können, ist die Seinsebene, welche unsere Aufmerksamkeit entstehen lässt; nur über diese Aufmerksamkeit können wir überhaupt mit Hilfe unserer Sinne erfahren und erleben. Dies ist eine wichtige Erkenntnis eines jeden nach Wahrheit forschenden Menschen: die Aufmerksamkeit ist der Schlüssel, da sie innerhalb des Veränderlichen konstant bleibt.

Unsere Erfahrungen machen wir täglich innerhalb zwei der drei Phasen, die wir jeden Tag bzw. jede Nacht durchleben. Einerseits die Wach- und die Traumphase, welche mit Erlebnissen angereichert sind und andererseits die Tiefschlafphase, in welcher wir reines Sein ohne Erfahrung sind - und damit auch ohne Erinnerung und ohne Anstrengung.
Nichtexistenz, wie im Tiefschlaf ist also auch ein Zustand, der für uns selbstverständlich und erstrebenswert sein müsste. Unbewusst ist er das auch, da niemand seinen Tiefschlaf und damit das süße Schwinden aller Probleme missen möchte. Die Aufmerksamkeit darf dann in ihrer Quelle ruhen – als Folge erfahren wir Entspannung, Erholung und Heilung für Körper und Geist.
Rechte Meditation bewirkt etwas ähnliches - wir erlernen diese Perspektive innerhalb des Tages einzunehmen, was eine Loslösung von der Person bewirkt und einen Blick in die wahre Beschaffenheit dieser Welt gewährt und ihre Natur offenbart, die nicht „fest“ ist, sondern eher wie eine Projektion anmutet.

Der Held der eigenen Story

Die täglichen Erfahrungen werden nur durch unsere Erinnerung greifbar. Wie ein unvollständiges Mauerwerk werden Erinnerungen bruchstückhaft aneinandergereiht, bis sich eine fadenscheinige Geschichte ergibt, die wir dann unser Leben nennen. Diese Geschichte bzw. die choreographierten Erinnerungen, aus welchen sie besteht, sind fehlerhaft, subjektiv, lückenhaft und oft ziemlich verlogen. Verlogen deshalb, weil das geistige Selbstbild auf eine gewisse Integrität angewiesen ist. In unserer Erinnerung bearbeiten wir Ereignisse so lange bis wir damit leben können. Wir bleiben der „Gute“ in unseren eigenen Story, indem wir andere herabsetzen, die Ereignisse und die Perspektive drehen, so weit wir es vertreten können und die Geschichte im Kopf konsistent bleibt. Es ist ziemlich faszinierend, dass wir das alles am Ende auch noch selbst glauben.
Wer hat noch nie zwei zerstrittene Lager erlebt? Jeder Beteiligte hat seine eigene Perspektive auf den Streit und jeder hat zweifelsfreie Beweise für die eigene Unschuld und die Verkommenheit der Gegenseite. Es wäre fast lustig, wenn es nicht so viel Leid erzeugen würde.

Die Erinnerung ist damit tückisch, aber ohne Erinnerung bliebe nur der Augenblick. Das Ego bzw. die Person erführe ein Gefühl größter Orientierungslosigkeit. Unser Erinnerungsspeicher, wie intakt oder beschränkt er auch sein mag, gibt uns eine Chronologie und damit einen Anhaltspunkt, wo und wann wir uns befinden („Gestern war ich traurig, allein und krank, heute koche ich gutgelaunt einen Eintopf und morgen muss ich leider wieder zur Arbeit, wo ich mindestens einen Kollegen nicht ausstehen kann.“).

Die Person ist abhängig von dieser Geschichte, so unwahr bzw. so erfunden sie auch sein mag. Unser Geist muss immer in einer Beziehung zur Zeit, zu einem Ort, zu Objekten bzw. anderen Menschen stehen. Ohne diese Koordinaten und nur mit der Erfahrung des Moments würden wir unser menschliches Dilemma gegen immerwährenden Frieden tauschen. Wir könnten aus unseren Erfahrungen weder ein Problem stricken noch könnten wir uns ein angenehmes Ereignis herbeiwünschen. Wir würden völlig im Einklang mit den Ereignissen des Lebens fließen ohne ein Bedürfnis nach Veränderung.

Die Story als Daseinsberechtigung

Die Person würde vergehen und auf das, was übrig bliebe, möchte kein Verstand bauen. Es ist für unseren Geist, d.h. unser Denken und unser persönliches Empfinden, kein guter Deal, die Existenz der Person und ihre Daseinsberechtigung aufzugeben.
Dabei sind Denken und Fühlen nichts als mit der Zeit tiefer werdende Furchen unserer Psyche, durch welche alle Ereignisse strömen, die uns das Leben schenkt. Das heißt, die Erfahrungen werden mit der Zeit durch immer gleiche Mechanismen des Geistes verzerrt. Wie ein Automat, der nur Kaffee und Tee oder aber eine Auswahl an Kaltgetränken ausspuckt, wird das Leben innerhalb tief geprägter Pfade, unserer sogenannten Psyche, wahrgenommenen. Die Absurdität einer Idee von einem freien Willen kann man leicht erkennen, betrachtet man ältere Menschen und ihre Gewohnheiten, Muster und eingefahrenen Verhaltensweisen, die manchmal wie eine Satire von Loriot anmuten. Die Person ist doch von Kindheit an lediglich ein Produkt ihrer eigenen Vergangenheit und entscheidet immer aufgrund vergangener Prägungen.

Der Versuch, dem entgegen zu arbeiten und das Bemühen, die Denkweise und das Verhalten zu ändern, ist sicherlich nicht falsch, aber letztlich auch ein verlorener Kampf gegen die Zeit, den niemand gewinnt.
Der totale Reset welcher durch das Fallenlassen des Geistes und seiner Prägungen entsteht ist ungleich nachhaltiger und befreiender. Der begnadete Lehrer Nisargadatta Maharaj erklärte, dass die Realisierung der wahren Natur nur durch das Sterben der Person während der Lebenszeit erfolgen kann. Unser eigentliches Selbst kann niemals sterben, da es nie geboren wurde.

Westlicher, dominanter Geist

In der Umsetzung bedeutet dies, die Ereignisse und Erfahrungen im Leben aus der Perspektive des Seins und diesen angelernten Impuls aus dem Zustand der Loslösung lediglich zu beobachten, jedoch nicht die Aufmerksamkeit darin zu verlieren. Das ist leichter gesagt als getan. Es bedarf für die meisten Seelen einer Zeit der Annäherung; einer Zeit der Meditation, der Reflektion und des Lernens.
Insbesondere für uns westliche Menschen scheint es nötig, den Umgang mit einem starken Geist zu erlernen und diesen durch sich selbst auszuhebeln, sind wir doch durch unsere Erziehung darauf trainiert, alles zu analysieren und uns gedanklich mit allem auseinander zu setzen. Unser Geist ist so stark, dass er sich alles zu eigen macht, sogar spirituelle Erlebnisse, und diese einer Person zuschreibt. Empfehlenswert und beispielhaft in diesem Zusammenhang ist z.B. das Buch „Dialogues of Reality“, von Robert Powell; er ist ein Schüler Nisargadatta Maharaj´s, welcher als Westler mit einer akademischen Ausbildung eine für uns nachvollziehbare Sichtweise einnimmt.

Unsere westliche Ausrichtung ist nun einmal auf die Erhöhung des Individuums konzentriert und damit auf die Priorisierung unserer Person. Innerhalb einer säkularisierten Gesellschaft erfordert dies ein tiefes Verständnis um die eigene Natur und die Trittfallen, in welche unser Geist ständig tappt.

Das ist ein Schlüssel für die Entkrampfung der Aufmerksamkeit, welche sich das gesamte Leben in die winzige Wahrnehmungsebene einer Person und ihres Geistes gezwängt hat. In der Loslösung der Aufmerksamkeit von dem Glauben an die Realität dieser Person liegt der Schlüssel zur eigentlichen Befreiung.

 

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