Samstag, 18. April 2020

Nicht sein oder gar nicht sein – Tiefschlaf, das „Ich bin“ und die Welten

Die Freiheit, nicht sein zu müssen, sondern lediglich zu dürfen, ist die schönste Befreiung von der Schwere des Lebens. Jede Nacht werden wir daran erinnert und fallen in einen süßen Tiefschlaf, einen Nicht-Zustand, der Abwesenheit von jedem Dasein. Das ist keine unangenehme Zeit. Die Zeit, in der wir nicht sind, ist, im Gegenteil, lebensnotwendig. Es ist reiner Genuß, nicht da sein zu müssen und es ist scheinbar ein Lebenselixier für Körper und Geist.
Die Person verschwindet in der Befreiung und wir werden jede Nacht daran erinnert, wie gut sich das anfühlt. Ein wichtiger Hinweis ist, dass wir ohne Tiefschlaf als Mensch gar nicht überleben können. So anstrengend und fordernd ist der sogenannte Wachzustand, die Zeit der Identifikation und des Dramas. Aber bevor wir aufwachen, kreiert unser Bewusstsein eine Phase des Träumens. Auch in dieser Traumzeit sind wir oft nicht die gleiche Person mit dem gleichen Leben und der gleichen Familie, die wir vom Wachzustand gewohnt sind. Manchmal spielen wir eine jüngere Version oder eine andere Person, haben neue Freunde oder eine andere Liebschaft. Und das alles fühlt sich völlig normal an, vielleicht aufregend aber nicht ungewohnt. So schnell und so oft legt unser Bewusstsein jede Nacht ein neues Kleid an, dass es eigentlich nachdenklich machen müsste.

Die Tatsache, dass unsere tägliche Identifikation mit der Person im Spiegel nur ein dünnes Brett ist, wird aber einfach so hingenommen. Es war halt nur ein Traum. Dabei wird übersehen, dass die Empfindung von „Ich“ völlig präsent ist: wir beobachten und handeln und sind uns dessen bewusst. Wir erinnern uns sogar oft an die Ereignisse, wenn wir aufwachen. D.h. sämtliche Funktionen unser Tagesbewusstseins funktionieren in der alternativen Traumwelt. Dass dieses „Ich“ problemlos tausende Varianten des Lebens spielt, ohne dabei mit der Wimper zu zucken, sollte durchaus Beachtung finden. Es ist ein wichtiger Hinweis auf die Natur unseres „Ichs“ und darauf, dass unser sogenanntes Leben nur auf äußerst dünnem Eis steht. Selbst unsere Erinnerungen sind im Tiefschlaf vollständig und im Traum oft zu großen Teilen ausgelöscht. Die kurze Existenz des Traumlebens wird als als vollständige Welt und was wir sind akzeptiert.
Was macht unser Leben sonst aus? Innerhalb von 24 Stunden verlieren wir immer wieder unsere Identität, unsere Welt, unsere Erinnerungen und sogar unser Bewusstsein. Das einzige, was unsere Traumwelt von der Wachwelt unterscheidet, scheint das wiederholte (tägliche) Auftauchen der Wachwelt zu sein. Aber ist das wirklich so? Oder trügen uns die unzuverlässige Erinnerung und unsere wechselhaft Wahrnehmung vielleicht? Wer hinterfragt seine Existenz mit der Begründung, dass unsere Welt keine 24 Stunden konstant ist?
Wer den Versuch startet, einfach länger wach zu bleiben, der bekommt nach wenigen Tagen Probleme mit seiner Wahrnehmung, seinem Erinnerungsvermögen und wird die normalerweise solide Umwelt als verschwommen und brüchig wahrnehmen. Wir können diese Realität nicht einmal für ein paar Tage festhalten, auch nicht mit den größten Anstrengungen. Das gleiche gilt natürlich auch für den Traum und den Tiefschlaf.
Jede dieser drei Welten und Daseinsformen hat ihre Berechtigung und sorgt für ein Gleichgewicht, dessen tieferer Sinn uns zunächst nicht erschließen mag. Es ist aber ein Hinweis darin enthalten. Erkennen wir das gemeinsame Element in allen drei Welten, dann erkennen wir die Konstante, die wir im Kern sind.
Der Zustand des Tiefschlafs ist dabei die natürlichste Form unseres Seins. Sie scheint zeit- und raumlos, ohne Erinnerung und ohne Wahrnehmung. Ohne die Elemente, die sich ansonsten immer wieder verändern.
Wir erkennen: das Leben ist Veränderung. Dem zugrunde liegt aber ein gleichmäßiges tiefes Summen aus dem alles entsteht – Synonym dafür ist der Zustand in dem sich unser Bewusstsein im Tiefschlaf befindet. Das reine Bewusstsein kontrahiert sich im regelmäßigen Rhythmus zu einem „Ich bin“ und analog dazu entstehen urplötzlich die Welten. Welten ohne wahre Substanz, die nur bestehen, weil die erste Form der Identität - das „Ich bin“ - existiert. Dem allen liegt das zugrunde, was sich nicht beschreiben lässt. Es lässt sich noch weniger beschreiben, als wir den Tiefschlaf begreifen und erleben können. Und dennoch sind wir es die ganze Zeit, ohne Unterbrechung, in allen drei Bewusstseinszuständen.

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