„Keiner
weiß es besser, wenige kennen sich so gut aus.“ Vielleicht sagen
das nur wenige derart direkt, aber insgeheim ist unpassende Arroganz
eine populäre Haltung, der ich des Öfteren begegnet bin. Dabei
lässt sich das Dilemma leicht erahnen: der durch die persönliche
Lebensführung unvermeidbar gewordene, persönliche Höhenflug zwingt
irgendwann zu einer ebenso unvermeidbaren, persönlichen Landung.
Die
Erhöhung der Person ist ein Wesenszug eines modernen Auftretens im
beruflichen und gesellschaftlichem Leben, sofern man eine Position
einnimmt, welche Verteidigungsmaßnahmen erfordert. Die Verteidigung
des Rufs, der Kompetenz, des Ranges und allem, was der Person die
Wichtigkeit verleiht, welche nicht bloß die Berechtigung zum guten
Leben erteilt, sondern auch mit gesellschaftlichen Rechten
einhergehen soll. Ähnlich wie ein Schmetterling erblüht der
erfolgreiche Mensch im günstigen Fall für eine kurze Phase in
seinem Leben zu einer bewunderten Person, der Anerkennung gebühren
muss.
Mit
aller Deutlichkeit wird gesellschaftlich kommuniziert, dass Fleiß,
Intelligenz, Leistungsbereitschaft und verschiedene andere Skills den
Erfolg begünstigen. Damit ist das Bild einer Person abgerundet, die
den Erfolg verdient hat.
Wer
schon einmal wichtige Geschäftsleute, z.B. am Nachbartisch im
Restaurant beobachtet hat, kann neben fachlichen Gesprächen auch
eine leicht erkennbare Hackordnung ausmachen. Der Rudelführer lässt
sich hier ebenso leicht erkennen, wie in jeder anderen Gruppe
sozialer Tiere – Hunde, Wölfe, Pferde, Schimpansen – überall
wird ein ähnliches Verhalten gezeigt. Im Tierreich dient dies der
Überlebensfähigkeit einer Gruppe, da z.B. der stärkste Affe oder
Hengst sein Erbgut weitergeben darf und über diverse Rechte verfügt,
um die Gruppe erfolgreich zu leiten.
Diese
natürliche Regelung macht selbstredend nur beschränkt Sinn am Tisch
der Geschäftsleute, auch wenn die Parallelen im Gehabe
offensichtlich sind. Es ließe sich noch eine Sinnhaftigkeit im Bezug
auf eine erfolgreiche Unternehmung machen, sofern der Schlauste und
Fähigste in der Gruppe tatsächlich diese Unternehmung leitet. Die
Zweifel sind diesbezüglich unter Tieren rarer gesät als in einer
Gruppe Menschen, welche selbstredend kniffligere Methoden kennen, um
die Karriereleiter emporzusteigen.
So
weit so gut. Problematisch kann es dann werden, wenn eine
Wahrnehmungsstörung die Person dazu beflügelt, diese berufliche
Position in andere Lebensbereiche hineintragen zu wollen. Sei es nun
die nervige Prahlerei im sozialen Raum oder die dauerhafte Betonung,
alles ließe sich managen, wenn man es nur richtig angeht, inklusive Optimierungs(rat)schlägen. Zuletzt durfte ich noch
beobachten, wie ein älterer Alpha-Geschäftsmann wie
selbstverständlich eine junge Kellnerin in eine unnötig lange
Prahlerei über seine beruflichen Leistungen verwickelte, inkl.
Lebenstipps für die junge Frau, und wie er selbstverständlich davon
ausging, dass die junge Dame dies zu interessieren hat. Diese
peinliche Überhöhung der Person findet sich in Ansätzen wie ein
Pilzgeschwür in der ganzen Gesellschaft. Das ist dann nicht nur ein
rein männliches Problem, sondern bezieht auch die gefühlte
Wichtigkeit vieler Frauen ein.
Mir
sind auch Narzissten bekannt, die beruflich sehr erfolgreich sind.
Den ein oder anderen Narzissten kennen wir alle aus den Medien.
Narzissmus ist ein anerkannte Störung der Selbstwahrnehmung, die
sich durch eine irritierende Selbstverliebtheit äußert. Trotz
dieser auf persönlicher Ebene eher abstoßenden Eigenschaft, kann
diese krankhafte Selbsterhöhung den beruflichen Erfolg noch
beflügeln. Ich kann nicht anders als zu fragen, was dieser Umstand
über unsere Gesellschaft und unsere Kultur aussagt?
Anhand
der sich ändernden pädagogischen Ziele kann man ablesen, wie sich
eine Gesellschaft wandelt. Waren es in den 50er Jahren noch Werte wie
Disziplin und Gehorsam, sind heute Selbstbewusstsein und Ellenbogen
angesagt. Dies zeigt, dass sich das gesamte gesellschaftliche Klima
verändert hat. Niemand möchte, dass sein Kind beruflich untergeht
und ermutigt es eher, sich mit verschiedenen Mitteln durchzusetzen.
Die
veränderten Erziehungsziele lassen sich auch in Verbindung bringen
mit dem aufkeimenden Neoliberalismus der 80er Jahre, der Amerika zu
dem gemacht hat, was es heute ist und auch an uns leider nicht
spurlos vorbeigeht. Es fragt sich, was auf den Raubtierkapitalismus
folgt: nun, die Anzeichen sind nicht zu übersehen, wir befinden uns
an einem Wendepunkt. Entsprechend werden sich die Wertevorstellungen
in den kommenden Jahrzehnten wohl wieder anpassen und, kurz gefasst,
zu mehr Tugenden der Vorsicht in stark kontrollierten
Gesellschaftsformen tendieren – davon bleiben dann auch
Erziehungsideale nicht ausgenommen.
Ich
werde das vielleicht an anderer Stelle nochmal ausführen. Hier geht
es mir um eine andere Frage, denn die Probleme der Zeit lassen sich
nun mal nicht politisch lösen und sie werden sich vermutlich niemals
lösen lassen. Warum sollte sich nach X-Jahrtausenden menschlicher
Gesellschaften etwas an den hervorstechenden Merkmalen, wie Krieg und
Untergang ändern? Das Drama des Lebens sieht dies vermutlich nicht
vor. Und moderner Kapitalismus ist wahrlich keine
Gesellschaftsordnung, die auf Langlebigkeit ausgelegt wurde. Jeder
zusätzliche Milliardär ist ein Marker für den bevorstehenden
Kollaps einer Demokratie.
Beginnen
wir also lieber bei uns selbst und der Frage, wie weit die Mechanik
von Körper und Psyche, die eine (geglaubt) wichtige Person zu
erschaffen vermag, in unser Wesen reicht? Wie tief ist diese Person
im Wesen des Menschen verankert?
Wir
haben uns angewöhnt, von einer großen Tiefe in unserer Psyche
auszugehen. Dabei ist die Kruste, welche die Person ausmacht, in der
Gesamtsphäre des Menschen eher eine winzige Größe. Die
Eigenschaften und Eigenarten einer Person verschwinden bereits mit
der Fähigkeit eine fortgeschrittene meditative Haltung einzunehmen.
In der gedanklichen Stille verschwinden die Ideen und Erinnerungen.
Die Vorstellungen über uns müssen gedanklich immer wieder erneuert
werden, damit wir uns damit identifizieren können. Verschwinden die
Ideen über uns selbst, verschwindet auch die Person. Was bleibt ist
eine schöne Aura des Friedens und eine liebevolle Haltung allem gegenüber.
Menschen,
die sich auf einen solchen Weg einlassen, verändern sich über die
Jahre dramatisch hin zu sanfteren und zugleich kompromissloseren
Wesen. Kompromisslos in der Wahrheitsliebe und in dem Bedürfnis, die
Tiefe des wiedererkannten Selbst auszuloten.
Der
Mensch reift von einem mit der Person identifizierten, hin zu einem
Wesen, dass keine Probleme mit seiner wachsenden Unwissenheit hat und
seine eigene Gegenwart am liebsten in Stille genießt. Die
Unwissenheit wächst, da sich alle Konzepte nach und nach als falsch
erweisen: Konzepte über uns selbst, die Welt, den Sinn des Lebens.
Die
Begegnung zwischen Menschen ändert sich ebenfalls in diesem Prozess.
Es gibt die oberflächlichen Begegnungen von „Wie heißt du und was
machst du beruflich?“. Diese dienen einer gedanklichen Einordnung
auf Basis verschiedener Konzepte, die wir über Menschen gespeichert
haben. Das ist die langweiligste und unwürdigste Form, wie wir
anderen begegnen können. Man kann die Schubladen im Fragenden aus
einer stilleren Perspektive regelrecht aufspringen hören – die
Kategorisierung von Menschen erfolgt schnell, bequem und unbewusst.
Dabei
laufen wir Gefahr, die wichtigsten Aspekte im Gegenüber überhaupt
nicht zu erfassen und gleich einem Schlafwandler, blind und voller
Illusionen, das eigentliche Leben zu versäumen. Wir funktionieren
dann gemäß einer Programmierung, welche das Produkt unserer
bisherigen Lebenserfahrungen ist – ein Leben als Automat, der das
Leben immer weniger hinterfragt.
Direkter
aber auch wenig verbreitet, ist eine Begegnung in der Stille. Sind
wir selbst still, sind unsere Gedanken ruhig und absichtslos,
erfassen wir den Menschen zunächst in dem dem, was nicht still ist
und können erahnen, was dahinter verborgen ruht.
Ist
der andere auch still, wird die Begegnung erhebend. Ihr entspringt
dann reine Freude und eine liebevolle Haltung, die unserer
unverfälschten Natur entspricht. Diese Begegnungen sind selten und
wertvoll und ein Zeichen größerer Reife. Das ist es, was als „noble
company“ bezeichnet wird und was unserer Entwicklung hilfreich ist,
da mehrere Menschen gemeinsam auf das gemeinsame Wesen ausgerichtet
sind und sich selbst im anderen wiedererkennen dürfen.
Es
ist die Anforderung an ein soziales Leben, welches vonnöten ist, um
die Perspektive für die Wahrheit nicht zu verlieren. Diese
Anforderung ist zugleich ein Bedürfnis und ein lebendiger Ausdruck
der Stille in uns. Wir verlieren dabei mehr und mehr die Fähigkeit,
gesellschaftlich angemessen auf Heucheleien zu reagieren. Aber das
ist ein geringer Preis für die Erkenntnis, dass wir nicht nur die
Marionetten in einem Spiel, sondern zugleich auch die Puppenspieler,
die Bühne und die Zuschauer sind.