Sonntag, 11. Oktober 2020

Reife Leistung und ungewöhnliche Anforderungen

Keiner weiß es besser, wenige kennen sich so gut aus.“ Vielleicht sagen das nur wenige derart direkt, aber insgeheim ist unpassende Arroganz eine populäre Haltung, der ich des Öfteren begegnet bin. Dabei lässt sich das Dilemma leicht erahnen: der durch die persönliche Lebensführung unvermeidbar gewordene, persönliche Höhenflug zwingt irgendwann zu einer ebenso unvermeidbaren, persönlichen Landung.

Die Erhöhung der Person ist ein Wesenszug eines modernen Auftretens im beruflichen und gesellschaftlichem Leben, sofern man eine Position einnimmt, welche Verteidigungsmaßnahmen erfordert. Die Verteidigung des Rufs, der Kompetenz, des Ranges und allem, was der Person die Wichtigkeit verleiht, welche nicht bloß die Berechtigung zum guten Leben erteilt, sondern auch mit gesellschaftlichen Rechten einhergehen soll. Ähnlich wie ein Schmetterling erblüht der erfolgreiche Mensch im günstigen Fall für eine kurze Phase in seinem Leben zu einer bewunderten Person, der Anerkennung gebühren muss.

Mit aller Deutlichkeit wird gesellschaftlich kommuniziert, dass Fleiß, Intelligenz, Leistungsbereitschaft und verschiedene andere Skills den Erfolg begünstigen. Damit ist das Bild einer Person abgerundet, die den Erfolg verdient hat.

Wer schon einmal wichtige Geschäftsleute, z.B. am Nachbartisch im Restaurant beobachtet hat, kann neben fachlichen Gesprächen auch eine leicht erkennbare Hackordnung ausmachen. Der Rudelführer lässt sich hier ebenso leicht erkennen, wie in jeder anderen Gruppe sozialer Tiere – Hunde, Wölfe, Pferde, Schimpansen – überall wird ein ähnliches Verhalten gezeigt. Im Tierreich dient dies der Überlebensfähigkeit einer Gruppe, da z.B. der stärkste Affe oder Hengst sein Erbgut weitergeben darf und über diverse Rechte verfügt, um die Gruppe erfolgreich zu leiten.

Diese natürliche Regelung macht selbstredend nur beschränkt Sinn am Tisch der Geschäftsleute, auch wenn die Parallelen im Gehabe offensichtlich sind. Es ließe sich noch eine Sinnhaftigkeit im Bezug auf eine erfolgreiche Unternehmung machen, sofern der Schlauste und Fähigste in der Gruppe tatsächlich diese Unternehmung leitet. Die Zweifel sind diesbezüglich unter Tieren rarer gesät als in einer Gruppe Menschen, welche selbstredend kniffligere Methoden kennen, um die Karriereleiter emporzusteigen.

So weit so gut. Problematisch kann es dann werden, wenn eine Wahrnehmungsstörung die Person dazu beflügelt, diese berufliche Position in andere Lebensbereiche hineintragen zu wollen. Sei es nun die nervige Prahlerei im sozialen Raum oder die dauerhafte Betonung, alles ließe sich managen, wenn man es nur richtig angeht, inklusive Optimierungs(rat)schlägen. Zuletzt durfte ich noch beobachten, wie ein älterer Alpha-Geschäftsmann wie selbstverständlich eine junge Kellnerin in eine unnötig lange Prahlerei über seine beruflichen Leistungen verwickelte, inkl. Lebenstipps für die junge Frau, und wie er selbstverständlich davon ausging, dass die junge Dame dies zu interessieren hat. Diese peinliche Überhöhung der Person findet sich in Ansätzen wie ein Pilzgeschwür in der ganzen Gesellschaft. Das ist dann nicht nur ein rein männliches Problem, sondern bezieht auch die gefühlte Wichtigkeit vieler Frauen ein.

Mir sind auch Narzissten bekannt, die beruflich sehr erfolgreich sind. Den ein oder anderen Narzissten kennen wir alle aus den Medien. Narzissmus ist ein anerkannte Störung der Selbstwahrnehmung, die sich durch eine irritierende Selbstverliebtheit äußert. Trotz dieser auf persönlicher Ebene eher abstoßenden Eigenschaft, kann diese krankhafte Selbsterhöhung den beruflichen Erfolg noch beflügeln. Ich kann nicht anders als zu fragen, was dieser Umstand über unsere Gesellschaft und unsere Kultur aussagt?

Anhand der sich ändernden pädagogischen Ziele kann man ablesen, wie sich eine Gesellschaft wandelt. Waren es in den 50er Jahren noch Werte wie Disziplin und Gehorsam, sind heute Selbstbewusstsein und Ellenbogen angesagt. Dies zeigt, dass sich das gesamte gesellschaftliche Klima verändert hat. Niemand möchte, dass sein Kind beruflich untergeht und ermutigt es eher, sich mit verschiedenen Mitteln durchzusetzen.

Die veränderten Erziehungsziele lassen sich auch in Verbindung bringen mit dem aufkeimenden Neoliberalismus der 80er Jahre, der Amerika zu dem gemacht hat, was es heute ist und auch an uns leider nicht spurlos vorbeigeht. Es fragt sich, was auf den Raubtierkapitalismus folgt: nun, die Anzeichen sind nicht zu übersehen, wir befinden uns an einem Wendepunkt. Entsprechend werden sich die Wertevorstellungen in den kommenden Jahrzehnten wohl wieder anpassen und, kurz gefasst, zu mehr Tugenden der Vorsicht in stark kontrollierten Gesellschaftsformen tendieren – davon bleiben dann auch Erziehungsideale nicht ausgenommen.

Ich werde das vielleicht an anderer Stelle nochmal ausführen. Hier geht es mir um eine andere Frage, denn die Probleme der Zeit lassen sich nun mal nicht politisch lösen und sie werden sich vermutlich niemals lösen lassen. Warum sollte sich nach X-Jahrtausenden menschlicher Gesellschaften etwas an den hervorstechenden Merkmalen, wie Krieg und Untergang ändern? Das Drama des Lebens sieht dies vermutlich nicht vor. Und moderner Kapitalismus ist wahrlich keine Gesellschaftsordnung, die auf Langlebigkeit ausgelegt wurde. Jeder zusätzliche Milliardär ist ein Marker für den bevorstehenden Kollaps einer Demokratie.

Beginnen wir also lieber bei uns selbst und der Frage, wie weit die Mechanik von Körper und Psyche, die eine (geglaubt) wichtige Person zu erschaffen vermag, in unser Wesen reicht? Wie tief ist diese Person im Wesen des Menschen verankert?

Wir haben uns angewöhnt, von einer großen Tiefe in unserer Psyche auszugehen. Dabei ist die Kruste, welche die Person ausmacht, in der Gesamtsphäre des Menschen eher eine winzige Größe. Die Eigenschaften und Eigenarten einer Person verschwinden bereits mit der Fähigkeit eine fortgeschrittene meditative Haltung einzunehmen. In der gedanklichen Stille verschwinden die Ideen und Erinnerungen. Die Vorstellungen über uns müssen gedanklich immer wieder erneuert werden, damit wir uns damit identifizieren können. Verschwinden die Ideen über uns selbst, verschwindet auch die Person. Was bleibt ist eine schöne Aura des Friedens und eine liebevolle Haltung allem gegenüber.

Menschen, die sich auf einen solchen Weg einlassen, verändern sich über die Jahre dramatisch hin zu sanfteren und zugleich kompromissloseren Wesen. Kompromisslos in der Wahrheitsliebe und in dem Bedürfnis, die Tiefe des wiedererkannten Selbst auszuloten.

Der Mensch reift von einem mit der Person identifizierten, hin zu einem Wesen, dass keine Probleme mit seiner wachsenden Unwissenheit hat und seine eigene Gegenwart am liebsten in Stille genießt. Die Unwissenheit wächst, da sich alle Konzepte nach und nach als falsch erweisen: Konzepte über uns selbst, die Welt, den Sinn des Lebens.

Die Begegnung zwischen Menschen ändert sich ebenfalls in diesem Prozess. Es gibt die oberflächlichen Begegnungen von „Wie heißt du und was machst du beruflich?“. Diese dienen einer gedanklichen Einordnung auf Basis verschiedener Konzepte, die wir über Menschen gespeichert haben. Das ist die langweiligste und unwürdigste Form, wie wir anderen begegnen können. Man kann die Schubladen im Fragenden aus einer stilleren Perspektive regelrecht aufspringen hören – die Kategorisierung von Menschen erfolgt schnell, bequem und unbewusst.

Dabei laufen wir Gefahr, die wichtigsten Aspekte im Gegenüber überhaupt nicht zu erfassen und gleich einem Schlafwandler, blind und voller Illusionen, das eigentliche Leben zu versäumen. Wir funktionieren dann gemäß einer Programmierung, welche das Produkt unserer bisherigen Lebenserfahrungen ist – ein Leben als Automat, der das Leben immer weniger hinterfragt.

Direkter aber auch wenig verbreitet, ist eine Begegnung in der Stille. Sind wir selbst still, sind unsere Gedanken ruhig und absichtslos, erfassen wir den Menschen zunächst in dem dem, was nicht still ist und können erahnen, was dahinter verborgen ruht.

Ist der andere auch still, wird die Begegnung erhebend. Ihr entspringt dann reine Freude und eine liebevolle Haltung, die unserer unverfälschten Natur entspricht. Diese Begegnungen sind selten und wertvoll und ein Zeichen größerer Reife. Das ist es, was als „noble company“ bezeichnet wird und was unserer Entwicklung hilfreich ist, da mehrere Menschen gemeinsam auf das gemeinsame Wesen ausgerichtet sind und sich selbst im anderen wiedererkennen dürfen.

Es ist die Anforderung an ein soziales Leben, welches vonnöten ist, um die Perspektive für die Wahrheit nicht zu verlieren. Diese Anforderung ist zugleich ein Bedürfnis und ein lebendiger Ausdruck der Stille in uns. Wir verlieren dabei mehr und mehr die Fähigkeit, gesellschaftlich angemessen auf Heucheleien zu reagieren. Aber das ist ein geringer Preis für die Erkenntnis, dass wir nicht nur die Marionetten in einem Spiel, sondern zugleich auch die Puppenspieler, die Bühne und die Zuschauer sind.

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen