Samstag, 12. Dezember 2020

Oh Langeweile, getreuer Fingerzeig!

Einem eifrigen Praktizierenden des Atma Vichara - der Suche nach dem Ich – ist alles was in und um uns geschieht eine willkommene Gelegenheit. Eine Gelegenheit zur Innenschau, zur Überprüfung, wem das jetzt eigentlich widerfährt, was auch immer im Moment geschieht.

Alles, was wir an Eindrücken aufnehmen und von dem wir glauben, dass wir es wahrnehmen, dass es uns betrifft und beeinflusst; dass es der Person, die wir sind, geschieht - dies alles dient der Überprüfung der von uns geglaubten Wahrheit, dass wir eine Person in einer Welt sind. Die Wahrheit, dass es uns und das andere gibt – mich und die Welt, mich und die anderen Leute...

Wir verstehen überhaupt nicht, bevor wir uns dieser Suche nach einer tieferen Wahrheit widmen, wie verletzlich und traurig uns dieser Glaube machen kann. Die Person ist durch den Geist bestimmt, durch den Glauben, die Weltsicht, die Prägung und allen Gedanken und Emotionen, die aus der persönlichen Anpassung des Geistes an diese Welt resultieren.

Der Körper ist dabei das Bindeglied, als Produkt dieser Welt, die ihn formte und den Geist, der an den Körper gebunden ist.

Atma Vichara löst diese Vorstellungen auf. Wir überprüfen dabei direkt am Ursprung aller weiteren Vorstellungen, ob diese wahr sein können, einfach nur, indem wir unser Ich in den Fokus rücken.

Aktivität contra Nichtstun

Um überhaupt offen für diese Suche oder diesen verschärften Blick zu sein, ist das Verweilen eine Voraussetzung – so wie ein Fechter, ein Bogenschütze oder ein Kampfkünstler auf einen stabilen Stand angewiesen ist, so erfordert Atma Vichara eine innere Haltung der Stille, des aufmerksamen Blicks.

Das genaue Gegenteil dieser für die Innenschau erforderlichen Haltung ist die Zerstreuung. Welche Ironie, in einer Gesellschaft zu leben, die sich in einem ständigen Kampf gegen das Nichtstun und die gefürchtete Langeweile befindet. Neben der Arbeit wird noch vielfältigen Aktivitäten nachgegangen, nebenbei wird das Smartphone gecheckt und die freie Zeit ist auf Wochen hinaus verplant. Verpönt ist, einfach nur dazusitzen und vor sich hinzustarren – das Nichtstun dem emsigen Treiben vorzuziehen. Ein trügerisches Vorurteil, dass leicht zu entkräften ist, wenn man weiß, wie Nichtstun wirklich geht und wie viel Glück es erfahrbar macht...

Ich bin´s doch

Wer ahnt schon, dass die verhasste Langeweile ein Fingerzeig, ein Rettungsring ist, den wir ergreifen können? Sie macht die Aktivität des Geistes spürbar in einem Moment, der uns die Gelegenheit gibt, einfach zu hinterfragen, zu wem diese Langeweile, dieses Gefühl eigentlich kommt. Denn wie jeder Gedanke, jede Körperempfindung und jede andere Emotion lässt sich natürlich auch ein Gefühl der Langeweile im Hinblick auf den Adressaten hinterfragen.

Die Antwort auf die Frage: „Zu wem kommt dieses Gefühl?“, ist zunächst immer: ich empfinde die Langeweile. Sie kommt zu mir, ich nehme sie wahr, in meinem Geist und meinen Empfindungen. Es entsteht dabei eine Empfindung für dieses Ich, eine persönliche Geschichte, die sich in Bildern aufdrängen will. Ich bleibe in diesem Moment bei der Empfindung von Ich, bei dem was schaut und was in diesem Beispiel die Langeweile erkennt. Das ist eine klare bekannte Empfindung von Ich, dem Zentrum, um welches die Person konstruiert ist – dieses Ich ist das Selbstverständnis, das wir haben.

Dieses Selbstverständnis, dieses Ich wird in dem Moment gesehen und erkannt. Es wird erkannt von etwas, dass für den Geist nicht greifbar ist, weil es den Geist beobachtet und nicht der Geist ist.

Wollen wir diesen Beobachter erkennen, dann erfordert dies eine weitere Frage. Die Frage lautet „Wer bin ich?“ oder (nach Belieben): „Was bin ich?“ oder „Was ist das?“. Diese Frage wird ohne Absicht gestellt, eine Antwort zu erhalten. Wer eine Antwort denkt, hat diesen Schritt verbockt. Nicht schlimm, Atma Vichara ist wie ein Spiel, das man den ganzen Tag spielen kann.

Ich bin

Die eigentliche Antwort oder besser gesagt: das eigentliche Erleben, das aus dieser Frage resultiert ist eine Bewegung des Bewusstseins. Unser Ich-Empfinden wandert vom Kopf ins Herz. Dabei entsteht das Gefühl von Raum, von aufgelöst-sein, von Freiheit und Liebe. Wenn wir darin verweilen, sind wir unserem eigentlichen Ich ein ganzes Stück näher. Wie wir diese tiefere Wahrheit nennen, spielt dabei keine Rolle. Man kann es „Ich bin“ nennen, als Hinweis, dass es eine freie Individualität ist, die wir sind, ungetrübt von persönlichen Dingen, einfach frei und seiner Göttlichkeit bewusst.

Fantastisch, dass dies durch eine einfache aufmerksame Frage erfahrbar ist.

Schrumpfkopf

Es ist aber genauso fantastisch zu sehen, wie schnell wir aus diesem natürlichen Sein wieder in den Kopf wandern und zu einem problembeladenen Wesen schrumpfen. Der Kopf bzw. die Gedanken treiben das freie Sein wieder in die Person. Ohne Gedanken sind wir ein glücklicher Niemand, mit Gedanken ein schrumpfkopfiger Jemand.

Gute Schwestern

Atma Vichara, das muss ich hier ein letztes Mal betonen, ist ein wunderbar leichter Weg, unser wahres Selbst zu erfahren. Wir können dabei mit allem Arbeiten, was der Moment so bietet. Jeder erdenkliche Mist führt mit der rechten Frage in ein freies, glückliches Sein.

Atma Vichara ist damit die geschickte Schwester der Meditation, die den Weg in einen meditativen Zustand weisen kann. Sie bereitet vor und ist der Fingerzeig, dem wir folgen. Die eigentliche Meditation ist das entspannte, gelöste Verweilen in diesem Zustand.

 

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